Veritas
keine Spuren, erläuterte er.
Im Fall eines Todes durch Inokulation, erklärte der Professor weiter, sei die Sache noch komplizierter, aber nicht unmöglich. Man müsse mehrere Leichname exhumieren, nicht nur denjenigen Josephs. Ideal sei es, Körper von Menschen zur Verfügung zu haben, die lange vor Joseph an Pocken starben, als die Pocken noch nicht immer tödlich verliefen – bei denen also Grund zu der Annahme besteht, dass der Tod aufgrund einer natürlichen Pockeninfektion eintrat –, und Körper von Pockentoten aus dem späten 18. Jahrhundert, also im Zeitalter der Inokulation. Diesen Leichen müsse man dann DNA-Proben entnehmen und sie mit denjenigen Josephs I. vergleichen. Ausführlich und unter Verwendung vieler wissenschaftlicher Begriffe hat Professor Amorosi uns in einem Telefongespräch alle möglichen Verfahren erklärt, mit denen man eine mögliche künstliche Ursache für den Tod des jungen Kaisers beweisen könnte. Aufgrund unserer laienhaften Kenntnisse ist es uns leider unmöglich, die Ideen und Absichten Professor Amorosis hier in der gebotenen wissenschaftlich exakten Terminologie wiederzugeben.
Wir kamen mit Amorosi überein, dass er uns zunächst postalisch die Seiten aus Harrisons Handbuch der Inneren Medizin zukommen ließ, die sich auf den Bioterrorismus beziehen, und sich in der Zwischenzeit bei einigen Kollegen umhörte, damit die Exhumierung und Untersuchung der Leichen möglichst von einer Equipe durchgeführt würde. Wir haben nie wieder von ihm gehört.
Wir haben die Fotokopien aus Harrisons Buch nie erhalten, und es ist uns nicht mehr gelungen, mit Professor Amorosi zu sprechen. Auf unsere E-Mails hat er nicht mehr geantwortet, und monatelang endeten unsere zahllosen Telefonate bei der jeweils diensthabenden Sekretärin, Krankenschwester oder Assistentin. Sie fragten nach unserem Namen und ließen uns warten, um uns dann mitzuteilen, dass Professor Amorosi nicht da sei. Bis wir eines Tages wieder zum Telefon griffen und die x-te Absage nicht mehr akzeptierten. Wir riefen fünfmal an einem Tag an, am nächsten Tag wieder, und das eine Woche lang. Jedes Mal erklärten wir die ganze Angelegenheit wieder von vorne, obwohl wir merkten, dass die andere Seite nichts darüber hören wollte. Mit der Zeit konnten wir die Stimmen wiedererkennen, und die Stimmen erkannten uns. Wir ertappten unsere Gesprächspartnerinnen bei Widersprüchen, manch eine hängte nach einem flüchtigen Gruß eilig auf. Auf der anderen Seite der Leitung hat man sich mit viel Geduld gewappnet, man könnte uns unfreundlicher behandeln. Im Juni 2006, als wir zum hundertsten Mal die Worte «Exhumierung», «Pocken» und «Inokulation» aussprachen, flüstert endlich eine schleppende, müde Stimme: «Wie alt sind Sie eigentlich? Merken Sie denn nicht, was Sie anrichten? Geben Sie auf. Und lassen Sie den Professor in Ruhe.»
Wir haben nicht wieder angerufen. Zum ersten Mal, seit wir Nachforschungen betreiben, die der offiziellen Geschichtsschreibung zuwiderlaufen, waren wir erschrocken. Die Stimme klang nicht drohend, ganz im Gegenteil – sie schien ehrlich. Der Fall ist klar: Professor Amorosi ist eingeschüchtert worden, und zwar so wirkungsvoll, dass er jeden Kontakt mit uns verweigert hat, und sei es nur ein Telefonat. Haben wir vielleicht wirklich mit dem Feuer gespielt? Noch einmal haben wir das Kapitel über Bioterrorismus in Harrisons Handbuch der Inneren Medizin aufgeschlagen und immer wieder denselben Passus gelesen, als könnten wir seine Tragweite erst jetzt richtig begreifen: Trotz wiederholter Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation, alle in vitro gelagerten Proben des Pockenvirus zu vernichten, hat man im CDC in Atlanta in den USA noch virulente Stämme konserviert, mit denen Experimente aller Art durchgeführt werden. Das Handbuch betont, dass das gentechnisch rekombinierte, also künstliche Variola-Virus sehr viel gefährlicher ist als das natürliche.
Wieder haben wir das Buch von Professor Buchwald zur Hand genommen. Es berichtet von den vielfaltigen illegalen Aktionen, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten die Todesfalle durch Pockenimpfung verbargen und sie als natürliche Pockenerkrankungen ausgaben: Krankenblätter wurden ausgetauscht, medizinische Befunde verschwanden und anderes mehr. Angesichts der entsetzlichen Fotos (S. 49 und 50) von Waltraut B., einem kleinen Mädchen, das durch Impfung an Pocken erkrankte und dessen Körper mit Pusteln und blutigen Krusten übersät ist, und des
Weitere Kostenlose Bücher