Veritas
Schönheiten Wiens zu gehören?
Unzählige Male schon hatte ich mich, wenn ich an der Hofburg, der Winterresidenz Ihrer Kaiserlichen Majestät, vorbeikam, über die außerordentliche Bescheidenheit und Schlichtheit des Gebäudes gewundert. Und nicht viel besser waren die drei Sommerresidenzen: die Favorita, Laxenburg und Ebersdorf. Ganz zu schweigen vom unscheinbaren Jagdpavillon Schönbrunn, dem nur die von Joseph I. in Auftrag gegebenen Erweiterungsarbeiten das Aussehen einer Villa verliehen hatten.
Wie oft hatte ich mit Verwunderung festgestellt, dass die Baukunst der kleinen, reizenden Herrschaftshäuser im italienischen Stil, die ich in der Josephstadt bewundern konnte – das Casino Strozzi, das Palais Schönborn oder die Villa Trautson –, den kaiserlichen Residenzen weit überlegen war! Es war, als hätten sich die Kaiser die Strenge zum Zeichen ihrer Größe erwählt und dem Adel die Prachtentfaltung überlassen.
Und dennoch hatte es eine Zeit gegeben, in der die Habsburger sich der Wunder des Ortes Ohne Namen erfreut hatten, eine Zeit, in der einer ihrer Kaiser, Maximilian II., diesen orientalischen Traum auf teutonischem Boden kultiviert hatte. Ein kurzer Traum, so kurz, dass er nicht einmal eines Namens würdig gewesen war; und dann nichts mehr.
Überrascht entdeckte ich Simonis’ gedankenverlorenen Blick auf mich gerichtet. Ob der Grieche meine Überlegungen erriet? Hatte er womöglich eine Antwort auf meine Fragen?
«Herr Meister, ich muss pissen und kacken. Dringend. Darf ich?»
«Ja, aber nicht hier vor mir», sagte ich enttäuscht.
«Das versteht sich, Herr Meister.»
7. Stunde: Es schlägt die Türkenglocke, auch Betglocke genannt.
Während Simonis sich entfernte, ganz von seinen elementaren Bedürfnissen in Anspruch genommen, hörte man eine Kirchenglocke in der Nähe auf die Türkenglocke im Stephansdome antworten, damit auch die fernsten Vorstädte Wiens zum Gebet aufgefordert seien. Ich ging mit meinem Lehrjungen in einen Winkel, und wir knieten nieder zum Morgengebet.
Welches Los auch immer den Ort Ohne Namen bis heute zur Vergessenheit verdammt hatte, dachte ich, während ich das Kreuzzeichen machte, Ihre Kaiserliche Majestät Joseph I. teilte die Ansicht seiner Vorfahren nicht und wünschte den Komplex nunmehr in seinem ursprünglichen Glanz wiederherzustellen. Ein wahres Glück, nicht nur für das Neugebäu, sondern auch für mich und meine Familie, sagte ich mir mit einem zufriedenen Lächeln, welches ich sogleich in ein inbrünstiges Dankgebet zum Allerhöchsten verwandelte.
Als der Grieche zurückkehrte, wurden wir von Frosch entdeckt. Der Wächter grüßte uns mit einem Grunzen, das nur um einen Hauch höflicher war als seine gewohnte, griesgrämige facies . Wir kündigten ihm sofort den Beginn unserer Arbeit an, und ich gab dem Wunsch Ausdruck, bei den Dienstgebäuden anzufangen, denn wenn der Kaiser diese Stätte wirklich wieder nutzbar machen wollte, waren es just diese Räume, die er noch vor dem Schlosse selbst benötigen würde.
Frosch forderte uns auf, ihm zu folgen und den Karren mit dem Schornsteinfegergerät mitzunehmen, den Simonis sich unverzüglich zu holen aufmachte.
Die Hände vor die Augen haltend, um uns vor dem Gleißen des Kupfers zu schützen, verlangsamten wir unseren Schritt vor diesem ebenso hinreißenden wie blendenden Schauspiel, und während der Wagen mit den Werkzeugen uns knarrend folgte, empfing uns von weitem ein Gruß. Er kam hinter den Türmen, dem Mauerring des Gartens und dem Schloss selbst hervor, als entstammte er einem Jenseits, das nur zum Ort Ohne Namen gehörte: Dröhnend hallte durch den morgendlichen Frieden das dumpfe Gebrüll der Löwen.
Wir wandten uns nach rechts und durchquerten das Dienstgebäude, welches, wie uns erklärt wurde, einst eine Meierei gewesen sei, oder lateinisch ein maior domus , das Haus des Verwalters. Auch dieser kleine Bau war in gänzlich verwahrlostem Zustand; durch die halb aus den Angeln gerissenen Fenster sah man Unkraut, das in die Innenräume gewachsen war. Das Dach war teilweise eingestürzt.
Nachdem wir unter einem Bogen hindurchgegangen waren, gelangten wir in den Hof, über den wir gestern hereingekommen waren. Links sah ich das Türchen, dahinter sich die Wendeltreppe verbarg. Im Hintergrund erkannte man die Dächer weiterer, tiefer liegender Gebäude.
Wieder sann ich über die ungewöhnliche Beschaffenheit dieser Anlage nach, die mit ihren Umfriedungsmauern, Alleen und Gärten und ihren
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