Veritas
Ich wusste es höchlich zu schätzen, dass er uns mit so großer und freisinniger Freundlichkeit begegnete, die sein Rang ihm durchaus nicht gebot. Er kannte den Kaiser persönlich, dieser estimierte seine Kunst über alle Maßen und hielt ihn unter seinen Musizi in Lohn und Brot. Vom ersten Moment an war es mir erschienen, als kennte ich ihn seit jeher. Dann hatte ich begriffen, aus welchem Grund: Orsini hatte eine wahrlich nicht unbedeutende Eigenschaft mit Atto Melani gemein. Er war ein Kastrat.
Ich traf ein wenig verspätet auf der Probe ein. Als ich mich der Tür der Kaiserlichen Kapelle näherte, hörte ich, dass Camilla ihrem Orchester bereits den Einsatz gegeben hatte. Es war Orsinis Gesang, der mich empfing. Das Oratorium erzählte die ergreifende Geschichte von Alexius, einem jungen römischen Adeligen, der an der Schwelle zur Ehe steht. Doch just am Tag der Hochzeit erhält er das göttliche Gebot, den irdischen Freuden zu entsagen: Darauf verlässt er die Verlobte, schifft sich ein und führt, nachdem er sich in entlegene Lande geflüchtet, ein Leben in Armut und Einsamkeit. Verkleidet als Bettler, kehrt er nach Rom zurück, wird im väterlichen Hause beherbergt und bleibt dort, in einem Gelass unter der Treppe hausend, gut siebzehn Jahre, ohne erkannt zu werden. Erst auf dem Totenbette gibt er sich seinen Eltern und der einstigen Braut zu erkennen.
Es wurde die Arie mit dem dramatischen Dialog zwischen Alexius und seiner Verlobten am Tag der missglückten Hochzeit geprobt. Ich hatte mich gerade zwischen den anderen Darstellern aufgestellt, als man, präludiert vom Zirpen der Theorben und Cembali und getragen vom knappen Räsonnement der Geigen, die herzzerreißenden Worte vernahm, mit denen Alexius sich von seiner Geliebten trennt:
Credi , oh bella , ch’io t’adoro
E se t’amo il Ciel lo sa
Ma bram’io il più bel ristoro
Mi t’invola altra beltà … 1 *
Im darauf folgenden Rezitativ antwortete sie mit gleicher Herzensqual:
Come goder poss’io di gemme e d’oro ,
Se da me tu t’involi , o mio tesoro ,
Che creda , che tu m’ami or mi spieghi
E l’amor tuo mi nieghi .
Conosco che il tuo amore
Sta solo su le labbra e non nel core … 2 *
Trotz dieser ergreifenden Szene trugen meine Gedanken mich fort. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich wieder auf dem Fliegenden Schiff, ich stellte mir seinen unbekannten, wie einen Mönch gekleideten Steuermann vor und dachte an sein geheimnisumwittertes Ende: Einer derart mysteriösen Begebenheit, so meinte ich, hätte ein Poem von Ariost gut angestanden.
Unterdessen wehrte Alexius die Bitten seiner Geliebten ab und kündigte ihr seine beschlossene Abreise an:
In questo punto istesso
Devo eseguire il gran comando espresso
Più dimora qui far già non poss’io .
Cara consorte , il Ciel ti guardi , addio … 3 **
Ich schloss die Augen. Während die Musik der Chormeisterin den feierlichen Raum der Kaiserlichen Kapelle ausfüllte, dröhnte mir erneut das Gebrüll der Löwen vom Neugebäu und das Gekreische der Vögel im Ohr.
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1 * Glaub mir, o Schöne, dass ich dich anbete./Und der Himmel weiß, dass ich dich liebe./Doch ich begehre schönere Erquickung./Eine andere Schönheit entzieht mich dir …
2 * Wie könnte Geschmeide und Gold mich erfreun/Wenn du dich mir entwindest, o mein Geliebter./Wie sollt ich glauben, dass du mich liebst, wie du mir erklärst/Und mir deine Liebe verwehrst. /Ich erkenne, dass du deine Liebe/Nur auf den Lippen und nicht im Herzen trägst…
3 ** Noch in diesem Moment/Muss ich dem großen Befehl folgen./Ich kann hier nicht länger verweilen./Liebste Gemahlin, der Himmel behüte dich, lebe wohl …
Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn
Freitag, den 10. April 1711
ZWEITER TAG
3. Stunde, da man den Ruf des Nachtwächters hört: « Haußknecht, steh auf in Gottisnam, der helli Tag bricht schon herann! »
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich voller Optimismus und begierig, an den Ort Ohne Namen zurückzukehren, um endlich mit der Arbeit zu beginnen. Seit zu langer Zeit schon harrte sie ihrer Erledigung.
Als das Primglöcklein den Beginn des Tages für das gemeine Volk einläutete, hatte ich mich mit meinem kleinen Lehrjungen und Simonis schon auf den Karren gesetzt.
«Diesmal, Herr Meister, nehme ich die Straße von Süden. Wir gehen auf der Gartenseite hinein, weit weg von den Löwen», hatte der Grieche mir lächelnd angekündigt, der sich am Abend zuvor bei der Schilderung meiner Flucht
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