Veritas
Mirabilien, benötigte ich ein wenig Zeit, um einige wichtige Details schärfer ins Auge zu fassen. Die erste Umfriedungsmauer, durch die ich hereingekommen, enthielt einen üppigen, aber ungepflegten Garten: Bäume und Pflanzen jeder Art wucherten hier. Die zweite Umfriedung, jene mit dem Laubengang, befand sich, obgleich die Formen der bezaubernden Beete und Zierwiesen noch gut erhalten waren, ebenfalls in gänzlich verwahrlostem Zustand. Keine Blumen prangten mehr in den Beeten, nicht ein Grashalm grünte auf den einstigen Wiesen. Der schöne Pokalbrunnen sprühte keinen einzigen Wassertropfen; Wände und Deckenvolten der Loggia zeigten die grausamen Spuren der Zeit.
Ich begann, auf das Schloss zuzugehen. Während ich mich näherte, dachte ich an den Namen, oder eher Nicht-Namen, dieses Ortes: Neugebäu, «Neues Gebäude», ein wunderlicher Name für eine seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten unbenutzte Anlage. Am Vortage, als wir von der Nordseite eingetreten waren, hatte ich nichts von den Herrlichkeiten geahnt, welche diese Stätte barg. Meine Kaminkehrergenossen hatten recht: Was war der Ort Ohne Namen eigentlich? Eine Villa? Ein Garten? Ein Jagdschlösschen? Ein Vogelgehege?
Ich musterte das Schloss, vor dem ich stand, wenn man es denn so nennen konnte. Eher war es eine freie Schöpfung der Phantasie: eine endlose Fassade, viele hundert Klafter lang, und in ihrer ganzen Länge triumphierend den Gärten im orientalischen Stil zugewandt; doch war das Gebäude von sehr geringer Tiefe, also durchaus nicht so geräumig, wie es mir anfangs erschienen war, sondern dünn und lang wie eine Schlange aus Stein.
Ich blieb stehen. Erst wollte ich die Türme besichtigen und begann im Nordosten. Im Inneren entdeckte ich Überreste kunstvollster Marmorgebilde, fremdartige Mosaike und Bruchstücke großer Wannen, die zeigten, dass sich hier einst Thermen befunden haben mussten, vielleicht mit Heilwasser aus Kräutern oder medizinischen Dampfbädern. Verblüfft durch diese nächste wunderliche Enthüllung, nahm ich mir vor, die anderen Türme später zu besuchen, und näherte mich wieder dem Schloss.
Seltsamerweise hatte das Gebäude nichts Orientalisches an sich, außer einem Satteldach, das eigenartige Schimmer aussandte, bei denen mir die vergoldeten Verkleidungen türkischer Pavillons in den Sinn kamen. Ich bemerkte, dass das Dach mit Ziegeln in einer seltsam changierenden Farbe gedeckt war, ganz anders als das übliche dunkle Maron der Wiener Dächer. Während ich es noch betrachtete, wurden meine Pupillen unversehens wie von einem Pfeil getroffen, dann noch einem und noch einem. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab, suchte durch den Spalt zwischen meinen Fingern zu spähen und staunte: Das Dach des Schlosses blitzte unter den Strahlen der Sonne wie Gold. Ja, es hatte keine Dachziegel aus Terrakotta, sondern aus kostbarem, vergoldetem Kupfer! Einem aufmerksameren Blick enthüllte sich freilich, dass recht wenig übrig geblieben war von der ursprünglichen Verkleidung, welche unter dem Zahn der Zeit, vielleicht auch menschlicher Habsucht, hatte leiden müssen. Doch die wenigen erhaltenen Platten genügten, das gerechte, gebenedeite Licht der Sonne ringsumher zu scharfen, starken Pfeilen zu brechen.
Abgeschlossen wurden die beiden äußeren Enden des Gebäudes von zwei halbkreisförmigen Wachttürmen, die sehr an die Apsiden unserer Kirchen erinnerten. Welch unerwartete Formen an diesem Ort mit so vielen türkischen Anklängen! Vom Ostturm aus, der rechts von mir lag, hatten wir uns am Tag zuvor in die Keller gewagt, wo ich auf den blutenden Rumpf des Hammels gestoßen war.
Vor dem Eingang der Schlossanlage ragte die Freitreppe auf, die über einen kleinen Graben in den Mittelteil des Gebäudes führte. Dieser wurde von einer steinernen Balustrade überragt, eine Aussichtsterrasse, wie ich vermutete. Jener Mittelteil nahm etwa ein Fünftel des ganzen Gebäudes ein, und man betrat ihn durch ein großes, von Fenstern flankiertes Portal, das auf beiden Seiten von zwei anmutigen Säulenpaaren mit Kapitellen geschmückt wurde.
Mit seinen klassizistischen Formen und christlichen Reminiszenzen schien sich das Schloss gen Norden als feierliche Schranke gegen die spitzen Minarette der Türme und den warmen Süden, der aus den Gärten aufstieg, behaupten zu wollen.
Ich schaute mich um: Wie war es möglich, dass niemand mir je von diesem großartigen Komplex erzählt hatte? War er etwa nicht würdig, zu den
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