Veritas
Studienbücher jedes Jahr schlechter geworden, alles wurde beherrscht von einem Gefühl der Nutzlosigkeit des Wissens. Während des Dreißigjährigen Krieges, welcher den gesamten Kontinent vor etwa einem halben Jahrhundert in die Knie gezwungen hatte, waren auch die Lebensart und die guten Sitten der Studenten verfallen. Im Jahre 1648 hatte der Thronerbe Ferdinand, Sohn des Kaisers Ferdinand III. und ein äußerst gelehriger junger Mann, beschlossen, sich an der Alma Mater Rudolphina zu immatrikulieren, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Fünfzehnjährige war der erste Habsburger, der sich an einer Universität einschrieb. Doch sein Studium währte nur kurz: Sechs Jahre später starb Ferdinand plötzlich an den Blattern und hinterließ den Thron Kaiser Leopold, seinem jüngeren Bruder, der leider weit weniger begabt war als er. Die Studenten aber waren alsbald wieder grob geworden, sie gaben sich lieber der Völlerei und dem schönen Leben hin als der Gelehrsamkeit. Raufereien und Duelle waren an der Tagesordnung, ohne Gottesfurcht brachten die jungen studiosi Aufruhr in Wirtshäuser, verprügelten Wachleute, griffen wehrlose Passanten an und raubten sie aus, ganz zu schweigen von den Judenverfolgungen. Die Universität und ihre Mitglieder genossen jedoch noch viele der Privilegien, welche das Reich ihnen seit unvordenklichen Zeiten gewährte, und so geschah es, dass Studenten, die des Mordes oder anderer schwerer Verbrechen für schuldig erkannt worden waren, begnadigt wurden oder sich den Prozessen mit Leichtigkeit entziehen konnten. Sogar im ruhigen Wien war es durchaus nichts Ungewöhnliches mehr, wenn die Leiche eines Studenten gefunden wurde.
Wenig nur hatte das gute Beispiel gefruchtet, das Kaiser Joseph I. vor zehn Jahren hatte geben wollen, indem auch er – mit Ingenium und Wissen nicht weniger begabt als sein Vorgänger Ferdinand, der verstorbene Bruder seines Vaters – sich an der Alma Mater Rudolphina immatrikulierte.
Es gab nur noch eines, was in der Universität der Kaiserlichen Hauptstadt reibungslos ablief: Vergnügungen.
«Wenn wir Depositionen oder andere Feste veranstalten, klappt alles vorzüglich. Der Dekan kommt immer, denn er respektiert die alten Traditionen», schloss Koloman, nunmehr sturzbetrunken. «Ein großer Mann, der Dekan, ehrlich und aufrichtig!»
«Du hast vergessen, dass er auch sympathisch ist», tadelte ihn Populescu, zum x-ten Male seinen Bierkrug hebend.
«Und dass er ein wirklich tüchtiger Kerl ist», ergänzte Hristo und unterdrückte mühsam einen kräftigen, mit Hopfen gewürzten Rülpser.
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1 * Himmel, erbarmender Himmel …
2 ** Einen Speer, einen Blitz, einen Pfeil / Erwarte ich von dir. / Verwunde, hemme, entseele / Den, der mir keine Treue erwies …
3 * Hoffnung, bei deiner Blässe / weiß ich, du hoffst nicht mehr, / dennoch hörst du nicht auf, / meinem Herzen zu schmeicheln
4 ** Da die Hoffnung fehlte
5 * O weh, also ist es doch wahr …
Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn
Samstag, den 11. April 1711
DRITTER TAG
7. Stunde: Es schlägt die Türkenglocke, auch Betglocke genannt.
Kopfweh, mürbe Glieder, pelziger Mund . Die stürmische Nacht mit den Studenten hatte mich der frischen Kräfte beraubt, die man zu Tagesbeginn braucht.
Die bizarre Zeremonie hatte gegen zwei Uhr nachts geendet; zurück im Himmelpfortkonvent (natürlich besaß ich einen Schlüssel zum Eingangstor), befand ich mich in einem Zustand fiebriger Erregung, der mich fast bis zum Morgengrauen wach hielt. Den freundlichen Aufforderungen von Simonis’ Freunden nachgebend, hatte auch ich während der Zeremonie einen Krug guten Bieres genossen, dem ein zweiter und dann ein dritter gefolgt waren. Gegen die Nachwirkungen der Trunkenheit hatten Simonis und seine Freunde jeder ein Glas Essig getrunken und sich ein mit eiskaltem Wasser getränktes Tuch auf die Schamteile gelegt. Unfehlbare Mittel, nach ihren Worten, von denen ich allerdings Abstand nahm. Und ich hatte schlecht daran getan: Obwohl ich mir keinen wirklichen Rausch zugezogen hatte, litt ich beim Erwachen unter allen einschlägigen Folgen.
Als ich, von der Türkenglocke geweckt, die Augen aufschlug, war Cloridia schon zum Palais des Prinzen aufgebrochen. Auch unser Kleiner musste bereits mit Simonis bei der Arbeit sein. An diesem Vormittage hatten wir nämlich zwei unaufschiebbare Verpflichtungen in der Josephstadt, wo einige Rauchabzüge dringend gesäubert werden mussten. Simonis und mein Söhnchen
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