Veritas
eingetroffen: Der Artikel trug das Datum des 23. Februars, das war kaum anderthalb Monate her. Es folgte ein Rapport über die Sitzungen des Parlaments in London und über den Krieg in Saragossa in Spanien, wo Karl, der Bruder Josephs L, dem Franzosen Philipp von Anjou, Enkel Ludwigs XIV, den spanischen Königsthron streitig machte. Ich übersprang die traurigen Kriegsnachrichten aus Asian in der Krim und Danzig und wechselte zur zweiten Seite über, wo ich endlich etwas Interessantes fand:
Am Dienstag , den 7. April , dem dritten Osterfeyertage , begaben sich das Erlauchteste Käyserl . Herrscherpaar mit denen Durchl . Erzhertzöginnen , Ihren Töchtern , und dem üblichen Accompagnement nach dem Mittagsmahle in die Kirche der Patres der Barfüssigen Karmeliter in der Vorstadt der Leopoldinsel und hörten dortselbst die Vesper und Litaneien .
Eingetroffen ist den nähmlichen Tage der Türkische Aga mit einem Gefolge von etwa zwantzig Personen , und ihm ward sein Unterkunfft allhier in der Vorstadt S . Leopold am Ufer des nächstgelegenen Zweiges der Donau geben & am vorgestrigen Tage um Mittag erhielt er Audientz von Ihro Durchlauchtigstem Printzen Eugen von Savoyen , welchselbiger ihm zu diesem Behufe eine Kutsche mit sechs und mit vier Pferden schickte …
Es folgte die Beschreibung der Audienz bis zur Verabschiedung von Eugen und dem Aga. Das alles war mir wohlbekannt, da ich teils persönlich, teils durch Cloridias Erzählungen daran teilgenommen hatte. Nur eine Neuigkeit brachte der mir anonyme Chronist:
Und anjetzo sagt man , dass der vorgenannte Printz Eugen im Begriffe sey , abzureisen nach den Niederlanden , um mit den Operationen der Campagne gegen Frankreich zu beginnen .
Wie zu erwähnen ich Gelegenheit hatte, konnte Prinz Eugen es kaum erwarten, sich wieder an die Front zu begeben. Nun, nachdem er den Aga mit allen Ehren empfangen hatte, schien die Stunde gekommen, sich in Marsch zu setzen.
Es folgten einige Neuigkeiten aus Madrid über die Ernennung von Generälen, Majoren und Unteroffizieren, sodann nebensächliche Meldungen aus Paris und den Niederlanden.
Als ich den Corriere Ordinario wieder zurücklegen wollte, glitt ein weiteres Bündel heraus. Cloridia, auf meine Deutschkenntnisse bedacht, hatte auch das Wiennerische Diarium gekauft, die deutschsprachige Gazette für die Stadt Wien, welche etwa alle drei Tage über die neuesten Begebnisse informierte – ebenjene Lektüre, die mir der gute Ollendorf empfahl. Wie die Ausgabe des Corriere Ordinario stammte auch diejenige des Wiennerischen Diariums von heute; Cloridia mochte sie, wie üblich, beim Rothen Igel, dem Häuschen im Tuchlauben, erstanden haben, wo die Gazette verkauft wurde.
Mühsam begann ich, die erste Nachricht zu entziffern. Nur unter Aufbietung all meiner kläglichen Kenntnisse gelang es mir zu erfassen, dass der Kaiser vor drei Tagen, am Mittwoch, den Grafen von Schönborn, bürgerlich Hugo Damian, den Reichsherrn zu Reichelsperg und Hepenheim, Grafen von Wiesentheidt und Alt Biesen, zum Geheimen Ratsmitglied ernannt hatte. Vollauf befriedigt, wenigstens den Kern des Artikels verstanden zu haben, ging ich zur zweiten Seite über. Hier wurde über die Ankunft des Türkischen Agas berichtet. Um den gefürchteten Osmanen nicht zu viel Wichtigkeit beizumessen, war die Nachricht auf acht Zeilen begrenzt worden, während die Ernennung des Grafen Schönborn zum Geheimen Rat deren fünfundzwanzig beanspruchte.
Es folgten vermischte Meldungen aus Ungarn, Polen und Russland (der Zar rüstete zum Krieg gegen die Tataren), aus Neapel (ein Erdbeben in der Stadt Reggio), aus Rom (Kardinal Gozzadini segnet den Bischof von Perugia). Sodann las ich Nachrichten vom Krieg in Spanien (der französische General Vendôme zieht sich mit viertausend Infanteristen und eintausendfünfhundert Reitern in Richtung Dauphiné zurück) und andere Neuigkeiten aus allen Teilen Europas. Da die Zeit zu drängen begann, arbeitete ich mich rasch zu den letzten Seiten durch. Hier wurden stets Verlautbarungen gedruckt, welche die Wiener besonders gierig lasen: die Liste von Personen jedweden Ranges, die in Wien eingetroffen und aus der Stadt abgereist waren, Taufen, Vermählungen und Todesfälle. Mir bereitete es großes Vergnügen, Namen zu suchen, die mir bekannt waren, zum Beispiel diejenigen meiner Kunden. Doch heute war dafür keine Zeit. Gerade wollte ich das Wiennerische Diarium neben den Corriere Ordinario legen, als mein Blick auf den Avis der
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