Verkehrte Welt
aus der Affäre«, sagte sie verärgert und hielt ihn am Gürtel seines Trenchcoats fest. »Dass Sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, ist mir auch scheißegal, aber bevor Sie sich in den Beichtstuhl setzen und fromme Sprüche kloppen, sollten Sie zumindest wissen, dass ein Kuss niemals armselig ist.«
»Ja, genau, wo kommen wir denn da hin!«, pflichtete ihr eine ältere Dame bei, »Unverschämtheit!« und »Dummer Weihrauchschwengel!« andere.
»Armselig sind höchstens die, die das nicht wissen, so wie Sie«, sagte sie und fühlte Tränen in sich aufsteigen, die sie in ihrer Wut jetzt nicht gebrauchen konnte.
»Überzeugen Sie sich, küssen Sie mich«, forderte sie ihn trotzig heraus und hielt ihm ihr hübsches Gesicht entgegen.
»Oder mich«, rief die ältere Dame. Er wollte fliehen, aber einige Fahrgäste rückten zusammen, um den Ausgang zu versperren. Hilflos sah er zu, wie sich die Tür an der Domplatz-Haltestelle öffnete und wieder schloss, er spürte ihre Hand im Nacken, mit der sie seinen Kopf zu sich zog, er sah, wie sie ihre Augen schloss und dabei leicht die Lippen öffnete, und verharrte in Schockstarre.
»Nun mach schon«, sagte die ältere Dame aufmunternd, während die Bahn wieder Fahrt aufnahm. »Los jetzt, küssen«, und »Mach hinne, Alter, ich muss gleich raus«, forderten andere ungeduldig. Er fasste sich ein Herz und küsste sie. Man glaubte förmlich, Musik zu hören, irgendwas mit Streichern. Alle Fahrgäste applaudierten.
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DIE SAUNA
Die Tür der Dampfsauna öffnete sich.
»Tachchen, noch Platz für zwei Schweißer?«, fragte eine tiefe Stimme.
Ein dreifaches »Mhmm« kam zurück.
Zwei massige Gestalten ließen sich auf der nassen Plastikbank nieder. Ein strenger Geruch breitete sich in der dampferfüllten Kabine aus.
»Das riecht aber komisch«, beschwerte sich einer der Gäste, »irgendwie wie nasser Hund, oder so?«
»Das wird Clyde sein«, sagte einer der Neuankömmlinge, »er hat halt lange Haare.«
Das Dampfgebläse stellte turnusgemäß seine Tätigkeitkeit ein, und der Nebel lichtete sich.
»Sagen Sie mal, ist das ein Orang-Utan?«
»Genau, das ist Clyde, ich habe ihn nach dem Orang-Utan aus dem Clint-Eastwood-Film von 78 benannt, Sie wissen schon, ›der Mann aus San Fernando‹, den hatte er ja bei einer Wette gewonnen ...«
»Ja, ich erinnere mich, aber er hat ihn nie in eine Sauna mitgenommen!«
»Wie denn auch?«, meldete sich ein anderer Saunist zu Wort, »es gab doch damals im Wilden Westen noch keine Dampfsauna, wenn man mal von den Schwitzhütten der Indianer absieht.«
»Wohl wahr«, unterstützte der Nebenmann diesen Einwand, »aber wenn Eastwood die Wette in Schweden gewonnen hätte, wäre er mit Clyde sicher auch in eine Sauna gegangen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, wandte der Vorredner ein, »denn in Schweden hätte er doch bestimmt keinen Orang-Utan, sondern einen Elch oder einen Bären gewonnen, und dann würde es hier noch ganz anders riechen.«
»Das ist doch unlogisch, was Sie da erzählen, der Orang-Utan ist im Wilden Westen ebenso wenig heimisch wie in Skandinavien, er bewohnt die tropischen Regenwälder Sumatras und Borneos, deswegen fühlt er sich in einer Dampfsauna auch heimisch.«
Clyde nickte begeistert.
»Na, Sie sind mir ja ein ganz Schlauer, dann wissen Sie sicher auch, dass Orang-Utans vorwiegend auf Bäumen leben, also Holz mögen, die Dampfsauna hier ist aber aus Plastik, also warum gehen Sie mit ihrem Clyde nicht in die finnische Sauna?«
»Weil da heute Frauentag ist, Clyde ist aber ein Männchen!«
Als verstünde Clyde, dass es um ihn ging, quietschte er vergnügt auf, sprang dem Tierfreund auf den Schoß, schlang seine langen behaarten Arme um dessen Kopf und begann ihn zärtlich zu küssen.
»Sehen Sie, auch von seinem Verhalten her, mit dem Wunsch nach Schmusen und Körperkontakt, wäre er bei den Frauen viel besser aufgehoben«, untermauerte der Redner seine These und versuchte sich dabei vorsichtig aus der Umarmung zu lösen.
»Ich würde ihn ungern allein zu den Mädels in die Finn-Sauna schicken, am Verbalen hapert es doch noch sehr, wir zwei haben eine Zeichensprache, unterstützt durch Laute, entwickelt, das klappt ganz gut, sehen Sie, im Moment zeigt er mir, dass er Ihr Goldkettchen toll findet und es gerne abreißen möchte.«
»Da wäre ich Ihnen aber sehr verbunden, wenn Sie ihm sagen
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