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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

Titel: Verkehrte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen von der Lippe
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dass Sie den Mund gleich beim ersten Kuss öffnen werden.«
    »Häh? Ich meine nicht geschlossen, sondern ausgeschlossen, nada, niente, es wird nicht geküsst!«
    »Auch nicht auf den Hals?«
    »Wagen Sie es, und ich knalle Ihnen eine.«
    »Hoho, das ist starker Tobak, Gnädigste; die Ohrfeige, übrigens erstmals belegt gegen Ende des 15. Jahrhunderts, gilt im Regelkanon intersexueller Kommunikation als Ultima ratio der Zurückweisung, täte es nicht auch etwas Deeskalierenderes, ein gehauchtes Nein etwa, vielleicht gestützt durch eine Hand, die Sie mir mit leichtem Gegendruck auf die Brust legen?«
    »Ich könnte Ihnen auch das Knie an den Sack legen und kurz und heftig hochziehen, wie wäre das?«
    Unvermittelt begann er zu weinen und senkte den Kopf. Seine breiten Schultern zuckten unter dem dunkelgrünen Trenchcoat, der im oberen Bereich vom morgendlichen Nieselregen durchnässt war. Deshalb hinterließen seine auf den Kragenaufschlag tropfenden Tränen auch keine sichtbaren Spuren. Seine freie Hand glitt in die Manteltasche, suchte vergeblich, übernahm dann den Haltegriff in der voll besetzten, ruckelnden Straßenbahn und überließ der anderen das Auffinden eines Taschentuchs. Jede einzelne seiner Tränen traf sie wie ein Dartpfeil. Plötzlich kam sie sich herzlos und armselig vor. Ihre schroffe Zurückweisung seines unverblümten, aber doch sehr höflich und irgendwie charmant vorgetragenen Wunsches tat ihr leid. Sie wandte sich ab und warf einen Blick in die stumm ins Leere starrenden Gesichter der morgendlichen Fahrgäste. Was spricht eigentlich dagegen, auch mal einen Fremden zu küssen, fragte sie sich, zumal einen, der offensichtlich Abwechslung in die sich täglich wiederholende Tristesse der Fahrt zur Arbeit bringen wollte.
    »Hören Sie, ich hab's mir überlegt«, flüsterte sie mitten in die Haltestellenansage hinein. »Ich würde Sie eigentlich doch ganz gern küssen, muss Ihnen allerdings sagen, dass ich eine eitrige Angina habe und erst seit gestern Antibiotika nehme und von daher nicht weiß, ob es nicht doch noch ansteckend ist.«
    »Oh, das macht mir gar nichts aus, ich werde mir ohnehin morgen das Leben nehmen, warum, tut jetzt nichts zur Sache, ich wollte nur einfach noch ein kleines Erfolgserlebnis in dieser Welt, bevor ich in eine andere wechsele, von der wir alle nicht wissen, wie sie aussieht.«
    »Erfolgserlebnis?«, antwortete sie, als hätte sie sich verhört. »Ach so, dann gehören Sie also doch zu der Sorte Männer, die Frauen als Beute verbuchen. Den Kuss können Sie sich sofort wieder abschminken, und die Selbstmordgeschichte ist ja wohl der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Und ich dachte, Sie wären anders.« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab, um sich ihre Enttäuschung nicht ansehen zu lassen.
    »Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht kränken, aber Sie sind die erste Frau, die ich angesprochen habe, in meinem ganzen Leben, und ich weiß offen gestanden nicht, wie man das richtig macht. Das meinte ich mit Erfolgserlebnis, nichts anderes, tut mir wirklich leid.«
    Und wieder ließ er den Kopf sinken.
    Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und kam aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus. Mein Gott, ist der Typ kaputt, dachte sie mit links, und Mein Gott, wenn das alles stimmt, mit rechts, immer abwechselnd. Eine Station lang standen sie dicht beieinander und sagten kein Wort.
    »Hören Sie«, nahm sie den Faden wieder auf, »verarschen kann ich mich alleine, aber wenn Sie mir glaubhaft erklären können, dass das stimmt und ich tatsächlich die erste Frau bin, die Sie je angesprochen haben, dann können wir über den Kuss neu verhandeln. Okay?«
    »Jetzt will ich Ihnen mal was sagen«, explodierte er jählings in einer Lautstärke, dass es den anderen Fahrgästen die Köpfe herumriss, »es ist mir scheißegal, ob Sie mir glauben oder nicht, aber ich bin Ihnen trotzdem sehr dankbar. Denn wenn man schon solche Klimmzüge machen muss, um an einen armseligen Kuss zu kommen, möchte ich nicht wissen, was erforderlich ist, um einer Frau beiwohnen zu dürfen, wie die Bibel es nennt, und für mich steht fest, dass es diese Mühe nicht wert ist, und deswegen kann ich mich auch ganz beruhigt und ohne Selbstzweifel morgen zum Priester weihen lassen, denn das mit dem Lebennehmen war natürlich metaphorisch gemeint. Und jetzt muss ich aussteigen, danke nochmals, und vielleicht sieht man sich mal im Beichtstuhl!«
    »Moment, Bürschchen, so geht das nicht, so einfach ziehen Sie sich nicht

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