Verkehrte Welt
ständig volle Pulle, ich kann ums Verrecken nicht abschalten.«
Die Freunde sahen sich wissend an. »Genau, Ado, spann mal richtig aus, geh ans Meer, bisschen fischen, das beruhigt total.«
»Fischen!« Ado schrie es fast. »Das machen doch alle. Das ist doch nichts Besonderes! Ich will auf einzigartige Weise entspannen, so lange, bis Iffi begreift, dass ich die coolste Socke im Packeis bin, the one and only Ado, und um mich buhlt. Ich hab's, ich werde ihr ein Iglu bauen, mit Kamin und Kühlschrank, wie die Eskimos!«
»Ado, jetzt mach dich mal geschmeidig, die Eskimos haben Kühlschränke?«
»Ja, und genau da liegt der Kern meines Problems: Ich habe hier keine kompetenten Gesprächspartner, deswegen verkümmere ich intellektuell! Ihr habt von nichts eine Ahnung! Ich würde bei Jauch jeden Abend die Million abräumen, und ihr? Rin ins Wasser, raus aus dem Wasser, mehr habt ihr nicht drauf. Natürlich haben Eskimos Kühlschränke, damit die Lebensmittel frisch und genussfertig bleiben, aber nicht einfrieren, so sieht's doch aus!«
»Ado-Baby, unsere Lebensmittel sind ständig frisch, fangfrisch sozusagen, frischer geht es nicht mehr, und die Frage, womit du hier Feuer in deinem Kamin machen willst, stellen wir erst gar nicht. Schau, wir haben hier alles, was wir zum Leben brauchen, dazu ne unverbaute Aussicht, keine Touristen und keine Gammelfleisch-Skandale. Das einzig Nervige sind die Eisstürme, aber die können nur wir Kaiserpinguine überleben, sonst niemand, auch kein Kühlschrank.«
»Ihr geht mir mit eurem krankhaften, bloß aus Ignoranz und Apathie gespeisten Optimismus so auf die Nüsse, das macht mich fertig! Ich werde einen Seeleoparden erlegen, ihm das Fell abziehen und für Iffi und mich je einen schönen Wintermantel nähen, den kann sie dann auch als Hochzeitskleid tragen.«
In diesem Moment rief Ados Mutter: »Ado, komm essen!«
»Ach du Scheiße, muss nach Hause, sonst macht die Alte Stress, und nicht vergessen: Morgen ist der Seeleopard dran, tschüs.«
»Hau rein, Ado«, murmelten die anderen Jungs kopfschüttelnd und trollten sich ebenfalls.
Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! für Leipzig 2011 mit der Transaktion-ID 1075178 erstellt.
ENDLICH FREI
Von klein auf hatte es für Robert nichts Schlimmeres gegeben als unangenehm aufzufallen. Er litt heftig unter Erröten, man könnte auch sagen: Er litt unter heftigem Erröten, es ist nicht ganz das Gleiche, aber auch nicht entscheidend für die Geschichte. Jeden Sonntag ging er in die Spätmesse; wir reden hier von einer Zeit, als Kinder in öffentlichen Verkehrsmitteln oder eben auch Gotteshäusern älteren Menschen ihren Platz anboten, wenn sonst keiner mehr frei war, und das waren auch die Zeiten, als die Kirchen sonntags noch voll waren, und so stand Robert regelmäßig während des Gottesdienstes. Es war nicht so, dass er seinen Platz gerne aufgab, klar, wenn ein altes Mütterchen mit Stock seufzend vorbeihumpelte, kein Thema, aber bei einer übergewichtigen Hausfrau in den Vierzigern, ansonsten bei bester Gesundheit, die ihn so lange durchdringend ansah mit einem »Wirst du wohl endlich Platz machen, du unerzogener Lauselümmel«-Blick, da kriegte er schon einen Hals. Und dachte für den Rest der Messe oder auch des ganzen Tages darüber nach, worin eigentlich die besondere Leistung beim Ältersein besteht. Man hat auf den Zeitpunkt seiner Zeugung und Geburt herzlich wenig Einfluss, also kann man daraus auch keine Rechte ableiten. Und ein Spruch wie »Ehre das Alter« schreit ja auch nach Begründung, denn wer älter ist, kann ja auch die ganze Zeit Scheiße gebaut haben, also warum soll man so jemand ehren.
Während dieser Gedanken stand Robert wie immer an einer Säule, der Pfarrer hatte zu predigen begonnen und sprach wie meistens über fleischliche Sünden. Von ihm ging das Gerücht, er werde häufiger mal in der Puffstraße der Kleinstadt gesehen, aber nicht er wurde rot, sondern Robert. Beim Wort »Sünde« fiel ihm ein, dass er gestern Abend erst an sich herumgespielt hatte, und ihm war, als würden alle, die hinter ihm saßen, ihm das ansehen. Seine Backen sprangen auf Rot, er kniff sich verzweifelt selbst in die Hand, ein Trick, der, wie er mal gelesen hatte, den Körper vom Grund des Errötens ablenken sollte, aber der scharfe Schmerz führte nur dazu, dass ihm - akustisch und olfaktorisch wahrnehmbar - ein Leibwind entwich. Das Mädchen am Rande der Bankreihe neben ihm schaute herüber, kräuselte seine
Weitere Kostenlose Bücher