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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

Titel: Verkehrte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen von der Lippe
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Stupsnase und zog lächelnd die Augenbrauen hoch. Roberts ohnehin große und abstehende Ohren hatten nun Farbe und Temperatur des Erdkerns. Völlig entnervt verließ er die Kirche.
    Die Erythrophobie ist die Befürchtung, in bestimmten Situationen oder bestimmten Menschen gegenüber zu erröten. Das Erröten ist dabei eine Abwehr verbotener libidinöser Wünsche. Andere definieren es als Ausdruck einer unbewussten Unterwerfungstendenz, eines Bedürfnisses, von anderen als Sexualobjekt gesehen oder gar benutzt zu werden. All das konnte Robert natürlich nicht wissen, auch nicht, dass er viele Jahre später, mittlerweile ein anerkannter Psychiater, einmal das Leiden seiner Kindheit beschreiben würde als »Fortwährende Präokkupation mit der negativ akzentuierten Andersartigkeit des Ichs«. Er wusste nur, so ging das nicht weiter. Schüchternheit, Sprechangst, Erröten, auch Paruresis, die Angst, in Gegenwart anderer Wasser zu lassen, das musste man sich doch wegtrainieren können. Dass Leute wie Eysenck zeitgleich genau daran arbeiteten, denn die Verhaltenstherapie entstand in den fünfziger Jahren, würde Robert später in seinen Memoiren nicht ohne Stolz erwähnen.
    Aber jetzt sagte ihm seine Intuition, dass er den Teufel mit Beelzebub austreiben musste. Also pinkelte er erst mal gegen eine Telefonzelle. Unter den Blicken der Passanten. Das heißt, er hatte es vor, aber als er gerade den Reißverschluss öffnete und seinen roten Bruder, wie er ihn als Karl-May-Fan, der er war, nannte, herausholte, betrat Frau Könnich, seine Musiklehrerin, die Telefonzelle. Sie bemerkte Robert und seinen An- bzw. Aushang und erstarrte. Robert erstarrte ebenfalls, partiell, also teilweise, Winnetou wuchs über sich hinaus. Unter den Blicken der Musikpädagogin mutierte der Paruretiker Robert binnen Sekunden zum Exhibitionisten Robert.
    Die Lehrerin verließ die Telefonzelle und stellte sich schützend vor ihren Schüler. »Pack den Dödel weg und komm mit!«, zischte sie.
    Robert tat, wie ihm geheißen. Zwei Stunden später war er nach allen Regeln der Kunst entjungfert, und Frau Könnichs Spruch »Auf alten Pferden lernt man gut reiten« würde ihn sein ganzes Leben lang immer mal wieder dankbar lächeln lassen.
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ERINNERUNGSFOTO
    Thorsten hatte gerade zwei Bussarde und einen Igel freigelassen, die er monatelang gepflegt hatte, bis sie von ihren Verletzungen wie Flügel- und Beinbruch sowie Vergiftung genesen waren. Seine Frau Anna und einige Freunde, die zu Besuch waren, hatten von diesem erhebenden Moment Fotos geschossen, und als man vom freien Feld zurück an den Gartentisch gekehrt war, wurde die Fotoausbeute sondiert. Thorsten starrte irritiert auf das Display der Kamera seiner Frau: »Boh, Anna, das ist doch Scheiße!«, rief er bestürzt aus.
    »Das sagt er immer«, erwiderte Anna, »er findet alle meine Fotos scheiße.«
    »Nee wirklich Anna, das ist doch Scheiße hier, oder was?«
    Er reichte ihr die Kamera.
    »Ach ja«, kicherte sie, »den Haufen hab ich fotografiert, der sah so schön aus.« »Ich fass es nich«, raunzte Thorsten, »zeig noch mal.«
    Er betrachtete das Foto intensiv, um dann festzustellen: »Ja, da hast du recht. Irgendwie ästhetisch, so schön rund und so frisch glänzend. Das ist wirklich ein toller Haufen Scheiße.«
    Die Kamera machte die Runde, damit sich alle überzeugen konnten, dann forschte Thorsten weiter nach Bussardfotos, fand aber nur Aufnahmen von dem kleinen Igel.
    »Guckt euch das an, Anna hat den Igel fotografiert, aber man sieht nicht, wo vorne und hinten ist, kein Gesicht, nichts, nur Stachel.«
    »Ja aber sieh mal, wie schön das Sonnenlicht mit den Stacheln spielt«, sagte Anna verzückt. »Man kann deutlich erkennen, dass die Stachel zartfarbige Kunstwerke sind und eine wunderschöne Blaumelierung haben. Von Weitem sieht er doch nur braun aus.«
    »Stimmt«, sagte Thorsten, und in diesem Moment schrie der Bussard, und alle schauten wie auf Kommando hoch in den blauem Himmel, wo er eine letzte Runde über dem Ort seiner Heilung drehte.
    »Schatz«, flüsterte Tom, »sei mir nicht böse, aber diese gequirlte Kacke ertrage ich nicht länger, ich gehe ins Foyer an die Bar und trinke ein Bier.« Isabell nickte nur und starrte weiter wie gebannt auf die Leinwand. Klar war der Film die letzte Grütze, aber Thorsten, oder besser Hajo Wertmann, war im Bett einsame Spitze, was sie von

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