Verküsst & zugenäht!
trat ein.
Der schwach beleuchtete Raum hatte einen dunklen, von unzähligen Schuhen zerkratzten Holzboden und dazu passende, wenn auch nicht ganz so abgenutzte Wände, an denen Schwarz-Weiß-Fotografien von Razor Bay aus dem letzten Jahrhundert hingen. Die wollte er sich auf jeden Fall einmal genauer ansehen.
Es gab eine lange Bar mit Hockern, dahinter war auf zwei großen Tafeln mit Kreide eine überraschend vielfältige Auswahl an Biersorten aus Kleinbrauereien aufgelistet. Eine Jukebox, ein Flipperautomat und ein paar Dartsscheiben rechts von ihm. In der Mitte des Raumes standen Tische und Stühle und an einer Wand gab es ein paar Sitznischen.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber diese Bar sah aus wie jede andere in Amerika auch. Nun, zumindest konnte er sich hier die Zeit mit einem Bier und den Fotos an den Wänden vertreiben.
„Na sieh mal einer an, was die Katze da reingeschleppt hat!“, sagte jemand hinter ihm.
Jake blieb abrupt stehen, und eine Sekunde lang war er wieder der Junge aus der vierten Klasse, der endlich auf dem begehrten Spielplatz für die größeren Kinder spielen durfte. Darüber hatte er damals sogar einen Moment vergessen, dass sein Dad abgehauen war. Es war ein perfekter Augenblick gewesen– bis ein zwei Jahre älterer Jungen ihm einen Stoß versetzte, der ihn beinahe umwarf. Noch heute hatte er dessen Kommentar in den Ohren: Endlich habt ihr bekommen, was ihr verdient. Wenn deine Schlampenmutter nicht ausgerechnet von meinem Dad schwanger geworden wäre, dann hätte er uns niemals verlassen.
Damals hatte er sich gefragt, wie viele verfluchte Familien sein bis vor Kurzem so heiß geliebter Vater eigentlich hatte. Jedenfalls wäre er nie auf die Idee gekommen, gleich am ersten Tag des neuen Schuljahres von seinem Halbruder herumgeschubst zu werden. Einem Halbbruder, den ihr gemeinsamer Vater Charlie Bradshaw all die Jahre vollkommen ignoriert hatte, obwohl sie in derselben Stadt lebten – so wie Charlie nun ihn ignorierte, seit er eine neue Familie hatte.
Diese kurze Erinnerung war genau das – nur eine Erinnerung, die in der nächsten Sekunde schon vergessen war. Deshalb schüttelte er die Mischung aus Verwirrung und Wut ab, die er immer verspürte, sobald es um Max Bradshaw ging, und schlenderte zu ihm hinüber. „Lange her. Wie ich höre, darfst du inzwischen eine Waffe tragen. Wenn das die Leute hier mal nicht zu Tode erschreckt.“
„Oh, die meisten brauchen sich keine Sorgen zu machen.“ Max warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Du hingegen …“
Sein Halbbruder starrte auf seine Brust, als würde er sich eine Zielscheibe darauf vorstellen. Es war nie leicht zu erkennen, wann er etwas ernst meinte und wann nicht, und deshalb bedachte Jake ihn mit einem kühlen Blick, der in beiden Fällen passte. „Bei der wievielten Frau bist du inzwischen gelandet? Nummer drei oder vier vielleicht? Irgendwelche Nichten und Neffen, von denen ich wissen sollte?“
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verspürte er dieses alte Bedauern. Er und Max waren sich schließlich gar nicht so unähnlich und nachdem ihr Vater aus der Stadt verschwunden war, hätten sie eigentlich das Kriegsbeil begraben können,und zwar nicht ausgerechnet im Schädel des jeweils anderen. Immerhin waren sie die einzigen Menschen in Razor Bay, die wirklich begriffen, wie sehr die Wunde schmerzte, die Charlie geschlagen hatte. Da wäre jemand gewesen, dem man nichts hätte vormachen müssen, jemand, der wusste, dass Charlie Bradshaw ein großartiger Dad war bis zu dem Tag, an dem er weiterzog und vergaß, dass man überhaupt existierte.
Nur war die Gewohnheit, den jeweils anderen bis aufs Blut zu hassen, damals schon zu tief in ihnen verwurzelt gewesen.
Sogar im gedämpften Licht konnte er sehen, wie sich die tief liegenden Augen seines Halbbruders verdunkelten, doch dann zuckte Max mit den breiten Schultern.
„Keine Frauen, keine Kinder. Du bist es, der früh damit angefangen hat und in die Fußstapfen unseres alten Herrn getreten ist.“
Das hast du dir selbst eingebrockt, du Genie, gestand Jake sich ein. Max hatte genau ins Schwarze getroffen.
Sosehr er den Treffer seines Halbbruders gern als solchen ignoriert hätte, es ging nicht. Als Kari im letzten Highschool-Jahr schwanger geworden war, hatte er die besten Absichten gehabt. Er war wild entschlossen gewesen, niemals wie sein Vater zu werden, und eine Zeit lang hatte es auch funktioniert. Nur stellte sich letztendlich eben doch heraus,
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