Verlangen
gesehen. Feine Leute, meine ich.«
»Es ist schon in Ordnung. Sie hat nichts getan.«
»Hat sie nich?« Die Frau war ehrlich überrascht. »Sie hat Ihr Kleid dreckig gemacht, Ma’am.« Für den Fall, daß Victoria es noch nicht bemerkt haben sollte, zeigte sie mit dem Finger auf die matschigen Fingerabdrücke auf dem feinen bernsteinfarbenen Musselin.
Victoria machte sich nicht die Mühe, auf die Flecken zu sehen. »Ich weiß Ihren herzlichen Empfang zu schätzen. Lucy ist der erste Mensch aus dem Dorf, den ich Gelegenheit hatte, kennenzulernen, außer unserer Haushälterin Mrs. Sneath. Da fällt mir ein, hätte Ihre ältere Tochter oder eine ihrer Freundinnen vielleicht Interesse an einer Anstellung in unserer Küche? Wir suchen verzweifelt Bedienstete. Es ist mir unbegreiflich, wie Stonevale mit so wenig Personal auskommen konnte.«
»Eine Stelle?« Das Gesicht der Frau zeigte Überraschung. »Eine richtige Stelle im großen Haus, Mylady? Gott, wir wären Ihnen wirklich dankbar. Mein Mann hat seit Jahren nich mehr gearbeitet, und die meisten andern Männer hier in der Gegend auch nich.«
»Ich versichere Ihnen, daß Graf Stonevale und ich Ihnen dankbar wären.« Victoria sah in die Reihe neugieriger Gesichter, die sich um die Kutsche versammelten.
»In der Tat werden wir eine Menge Leute brauchen. Falls jemand Interesse daran hat, in den Gärten, den Ställen oder in der Küche zu arbeiten, soll er sich bitte morgen früh auf Stonevale einfinden. Wir werden die Leute sofort einstellen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich dachte, ich könnte in Ihrem reizenden Dorf etwas einkaufen.«
Als sich Victoria, gefolgt von Nan, auf den Weg begab, machte die Menge ihr sofort Platz. Noch als sie die Schwelle des kleinen Geschäftes überschritt, konnte sie Lucys Gerede von der Bernsteinlady hören.
Zwei Stunden später segelte Victoria in die Eingangshalle des Herrenhauses. »Wissen Sie zufällig, wo sich Seine Lordschaft im Augenblick aufhält, Griggs? Ich muß ihn sofort sprechen.«
»Ich glaube, er ist mit Mr. Satherwaite in der Bibliothek, Madam. Seine Lordschaft hat ausdrücklich angeordnet, daß er nicht gestört werden möchte, während er mit dem neuen Verwalter spricht.«
»Ich bin sicher, daß er in meinem Fall eine Ausnahme machen wird, und es kommt mir außerordentlich gelegen, daß auch Satherwaite da ist.« Victoria lächelte und schritt energisch auf die Tür der Bibliothek zu, wobei sie einen ihrer eleganten Handschuhe abstreifte.
Griggs sprang zur Tür. »Verzeihen Sie, Madam, aber Seine Lordschaft hat sich ausdrücklich jede Störung verbeten.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Griggs. Ich werde es auf mich nehmen.«
»Verzeihung, Madam, aber ich habe die Ehre, bereits seit mehreren Monaten bei Seiner Lordschaft in Diensten zu stehen, und ich wage zu behaupten, daß ich weiß, was er will. Ich versichere Ihnen, er legt größten Wert darauf, daß man ihm gehorcht.«
Victoria lächelte grimmig. »Glauben Sie mir, ich weiß besser als die meisten Menschen, daß Stonevale ein paar seltsame Angewohnheiten hat. Seien Sie so gut und öffnen Sie die Tür, Griggs. Seien Sie versichert, daß ich die volle Verantwortung für mögliche Schwierigkeiten übernehme.«
Mit einem zweifelnden Blick und einem Ausdruck böser Vorahnung, jedoch unfähig, seiner Herrin zu widersprechen, öffnete Griggs die Tür.
»Danke, Griggs.« Victoria streifte sich den zweiten Handschuh ab, als sie den Raum betrat. Sie sah, wie Lucas den Kopf hob und die Stirn runzelte. Sein Ausdruck wandelte sich jedoch in Überraschung, als er bemerkte, wer ihn störte.
»Guten Tag, Madam.« Lucas erhob sich höflich. »Ich dachte, Sie wären ins Dorf gefahren.«
»Bin ich. Und jetzt bin ich zurück, wie Sie sehen. Welches Glück, Sie hier mit Ihrem Verwalter anzutreffen.« Sie lächelte in Richtung von Mr. Satherwaite, einem ernsten jungen Mann, der Stonevale gegenüber am Tisch saß. Der Verwalter ließ das Journal, das er in den Händen hielt, sinken, sprang auf die Füße und verbeugte sich tief.
»Ihr Diener, Mylady.«
Lucas beäugte Victoria mißtrauisch. »Was kann ich für dich tun, meine Liebe?«
»Ich möchte Sie nur von ein paar Kleinigkeiten in Kenntnis setzen. Ich habe im Dorf bekanntgegeben, daß wir Bedienstete suchen. Die wohl zahlreichen Interessenten sollen sich morgen früh vorstellen. Mr. Satherwaite kann sich sicher um sie kümmern. Ich werde mit Griggs und Mrs. Sneath besprechen, wie viele Leute
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