Verlangen
Mit geübtem Auge erkannte sie einige Spezies, doch dann entdeckte sie eine Gruppe eher ungewöhnlicher Pilze, und trotz ihrer schlechten Laune erwachte ihr Interesse. Sie öffnete den Skizzenblock.
Das war es, was sie brauchte. Sie suchte den Frieden, den sie im Skizzieren und Malen fand. Victoria verbrachte geraume Zeit damit, die zarten Pilze zu zeichnen. Über ihrer Arbeit fand sie Vergessen. Die Zeit verflog, und zumindest für den Augenblick wich der Druck ihrer jungen Ehe von ihr.
Als sie mit den Pilzen fertig war, zeichnete sie noch einige interessante tote Blätter, und dann fand sie einen faszinierenden Bovist. Diese zarten Gebilde waren immer eine besondere Herausforderung. Es war schwierig, diese duftige Leichtigkeit wiederzugeben, ohne die Details zu vernachlässigen. Pflanzenzeichnungen waren eine aufregende Mischung aus Kunst und Wissenschaft. Victoria liebte diese Arbeit.
Zwei Stunden später klappte sie den Skizzenblock zu und lehnte sich gegen den Baumstamm. Sie fühlte sich wesentlich besser. Ruhiger und gefestigter. Die warme Nachmittagssonne war angenehm, und irgendwie machten die Felder und Höfe zu ihren Füßen einen weniger deprimierenden Eindruck. Es gab Hoffnung für Stonevale, dachte sie plötzlich. Lucas würde es schaffen, diese Ländereien zu retten. Wenn irgend jemand es konnte, dann Lucas.
Natürlich mit ihrem Geld.
Doch selbst diese Vorstellung war nicht mehr so ärgerlich wie zuvor. Zaghaft kam ihr ein Gedanke. Vielleicht hatte Lucas gestern abend beim Dinner recht gehabt. Hatte sie je zuvor etwas Sinnvolles mit ihrem Geld angefangen?
Trotzdem, es war ihr Geld. Victoria runzelte die Stirn und erhob sich, wobei sie die Blätter von ihrem Kleid bürstete. Sie durfte nicht vergessen, daß sie das unschuldige Opfer war.
Drei Tage später unternahm Victoria ihren ersten Ausflug in das Dorf. Sie hatte reiten wollen, um ihre neue Heimat besser erkunden zu können, aber Lucas hatte sich diesem Ansinnen entgegengestellt.
»Ich werde nicht zulassen, daß die neue Gräfin von Stonevale ihren ersten öffentlichen Auftritt auf dem Rücken eines Pferdes absolviert. In diesem Fall ist ein gewisses Maß an Schicklichkeit unerläßlich, Madam. Entweder nimmst du eine Kutsche und läßt dich von deiner Zofe oder einem Burschen begleiten, oder du gehst überhaupt nicht«, bestimmte er.
Da ihr Verhältnis zu Lucas bestenfalls als halbwegs ausgeglichen bezeichnet werden konnte, beschloß Victoria, sich ihm in dieser Angelegenheit zu beugen.
Indem sie diesen Kurs verfolgte, verhielt sie sich inzwischen ebenso vorsichtig wie der Rest des Haushalts. Sie hatte festgestellt, daß es entschieden leichter für sie und auch für die Bediensteten auf Stonevale war, wenn sie ihren Mann nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit herausforderte.
Der Gedanke, sich ihm auch nur in unwichtigen Dingen zu beugen, verärgerte sie. Doch tatsächlich war es schwierig, ihre starre Abwehr vierundzwanzig Stunden am Tag aufrecht zu erhalten. Sie war es gewohnt, mit Lucas glücklich zu sein, und nicht, gegen ihn Krieg zu führen.
Und, so mußte sie widerwillig zugeben, auf jeden Fall hatte es gewisse Vorteile, im Hause den Anschein von Frieden zu wahren. Es war unleugbar, daß Lucas angesichts ihrer neuen Zurückhaltung davon absah, seine entsetzliche Laune auch an den Bediensteten auszulassen. Der Mann strahlte eine solche Autorität aus, daß seinen Anweisungen ängstlich Folge geleistet wurde.
Victoria hatte sich gesagt, daß seine Führungseigenschaften und der Befehlston wohl teilweise von seiner Militärkarriere herrührten. Zugleich jedoch vermutete sie, daß ein guter Teil einfach in Lucas’ Wesen lag. Er war der geborene Herrscher.
Und die Überheblichkeit des natürlichen Herrschers war zweifellos angeboren. Ohne sie und die dazugehörigen Führungsqualitäten hätte Lucas nicht die geringste Chance, Stonevale und die umliegenden Ländereien zu retten.
Während Victoria diesen unangenehmen Gedanken nachhing, rumpelte die Kutsche über die holprige Straße ins Dorf.
Sie mußte zugeben, daß sie Lucas’ Unbeugsamkeit bereits vor ihrer Heirat gelegentlich verspürt hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich davon sogar angezogen gefühlt. Doch war sie zuvor selten gezwungen gewesen, sich dieser Härte zu beugen. Schließlich hatte Lucas sie damals heftig umworben. Da war es nur natürlich, daß er die unangenehmen Seiten seines Wesens vor ihr verborgen gehalten hatte.
»Es kann nicht Ihr Ernst sein, daß Sie
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