Verlangen
in diesem düsteren Ort einkaufen wollen, Ma’am«, sagte Nan, als die Kutsche in die Hauptstraße des Dorfes einbog. »Nicht gerade Bond Street oder Oxford Street, oder?«
»Nein, gewiß nicht. Aber wir sind ja auch nicht hier, um ein Ballkleid zu kaufen. Ich will mich lediglich umsehen und vielleicht mit ein paar von den Leuten sprechen, mit denen Stonevale täglich Geschäfte betreibt. Dies ist unser neues Zuhause, Nan. Wir müssen unsere Nachbarn kennenIernen.«
»Wenn Sie es sagen, Ma’am.« Nan schien nicht allzu überzeugt zu sein.
Victoria lächelte schwach und beschloß, praktische Gründe ins Feld zu bringen. »Du hast gesehen, wie es um Stonevale bestellt ist. Das Haus ist in einem fürchterlichen Zustand. Wahrhaft jämmerlich. Seine Lordschaft ist zu beschäftigt, um sich um den Haushalt zu kümmern, und ich bezweifle, daß er als alter Soldat wüßte, wie man einen Haushalt führt, selbst wenn er es versuchte.«
»Das stimmt sicher. Einen Haushalt von der Größe Stonevales zu führen, ist Sache einer Frau.«
»Ich fürchte, du hast recht, Nan. Und ich scheine diejenige zu sein, der diese Aufgabe zugefallen ist. Solange wir hier leben müssen, können wir den Platz wenigstens bewohnbar machen. Und wenn wir schon Geld ausgeben, um Stonevale gemütlich zu machen, können wir ebenso gut soviel wie möglich hier im Dorf lassen. Diese Menschen leben von Stonevale.«
Dieser Logik konnte Nan folgen. »Ich verstehe, was Sie meinen, Ma’am.«
Die Menschen kamen aus den Läden und dem kleinen, verfallenen Wirtshaus, um zuzusehen, wie die Stonevalsche Kutsche feierlich die schäbige Straße hinunterfuhr. Victoria lächelte und winkte.
Ein oder zwei Menschen winkten zögerlich zurück, doch der allgemeine Mangel an Begeisterung für die neue Herrin von Stonevale war erschreckend. Victoria fragte sich, ob die Leute sie persönlich nicht mochten oder ob ihre Haltung einfach die Gefühle der Dorfbewohner gegenüber dem Herrenhaus im allgemeinen widerspiegelte. Angesichts der Vernachlässigung, die diese Menschen durch den früheren Herren von Stonevale zu spüren bekommen hatten, konnte sie es ihnen nicht verübeln, wenn sie ihrer Zukunft nicht gerade optimistisch entgegensahen.
Diese armen Menschen, dachte sie, während sie an ihrer Unterlippe nagte. Sie hatten wahrlich gelitten. Hier war ein Ort, wo mit Geld viel zu erreichen war.
In der Mitte des Dorfes entdeckte Victoria ein kleines Stoffgeschäft. »Ich denke, hier wäre der geeignete Platz, um mit unseren Einkäufen zu beginnen.«
Es gelang Nan, eine Antwort zu unterdrücken, obgleich ihre Verachtung für den Ort offensichtlich war.
Angesichts dieser Überheblichkeit ihrer Zofe lächelte Victoria amüsiert. Mit Hilfe des Burschen stieg sie aus der Kutsche.
Die warme Frühlingssonne verstärkte den Bernsteinton ihres Kleides und ließ ihr honigfarbenes Haar glänzen. Die goldbraune Feder an ihrem kleinen, gelben Hut wippte in der leichten Brise, und das bernsteinfarbene Amulett, das sie um den Hals trug, strahlte in der Sonne. Die Leute auf der Straße waren wie versteinert.
Ein kleines Mädchen, das sich hinter den Röcken seiner Mutter versteckt gehalten hatte, jauchzte plötzlich auf und lief geradewegs auf Victoria zu.
»Bernsteinlady, Bernsteinlady«, rief es fröhlich, während es barfuß über die Straße rannte. »Schöne Bernsteinlady. Sie sind zurückgekommen. Meine Oma hat immer gesagt, Sie würden zurückkommen. Sie hat gesagt, Sie hätten Haar aus Honig und Gold und ein goldenes Kleid.«
»Nun, nun«, sagte Nan freundlich, während sie versuchte, das Kind aufzuhalten. »Wir wollen doch nicht, daß die Lady schmutzig wird. Pst, Kind. Geh zurück zu deiner Ma.«
Das Mädchen ignorierte sie und tauchte blitzschnell unter ihren Armen durch, um Victorias gelbe Röcke mit seinen Matschfingern zu berühren.
»Hallo«, sagte Victoria mit einem freundlichen Lächeln. »Wie heißt du denn?«
»Lucy Hawkins«, erwiderte das Mädchen stolz, während es sie bewundernd ansah. »Und das is meine Ma. Und da drüben, das is meine große Schwester.«
Die Frau, die Lucy als ihre Mutter vorgestellt hatte, kam bereits herbeigeeilt. Ihr ausgezehrtes Gesicht zeigte blankes Entsetzen. Sie war höchstens fünf Jahre älter als Victoria, aber sie wirkte wie mindestens fünfundvierzig.
»Es tut mir leid, Ma’am. Sie is noch ein Kind. Sie hat’s nich böse gemeint. Sie weiß nich, wie man sich gegenüber feinen Leuten benimmt. Sie hat noch nich so viele
Weitere Kostenlose Bücher