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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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verzerrt.
    »Sie spricht«, sagte der Mann und wirkte erfreut. » Très bien . Aber dir ist etwas zugestoßen, stimmt’s?«
    War dieser seltsame Kerl Franzose? Ich versuchte mich aufzurichten, fiel aber sofort wieder auf Knie und Hände. Ich hatte das Gefühl, einen Kreisel im Kopf zu haben, der mich schwanken ließ. Der Mann schaute noch immer auf den Turm.
    »Irgendwo habe ich so etwas schon einmal gesehen … Fast möchte ich es für einen affût perché , einen Hochsitz, halten, um nach Feuern Ausschau zu halten … stimmt das? Nein, dafür ist er zu aufwendig gebaut.«
    Der Mann kam näher. Noch immer befand ich mich auf allen vieren und mir war so schwindelig, dass ich mich kaum bewegen konnte. Er kniete sich nieder und hielt die Hände hoch, sodass ich seine Handflächen sehen konnte. Anschließend schüttelte er den Kopf, bis ihm das strähnige, nasse Haar vor dem Gesicht hing. Dennoch konnte ich erkennen, dass er mich noch immer anstarrte.
    »Hast du je mit Wasserfarben gemalt?« fragte er. »Man kann nicht verhindern, dass sie auf der toile , auf der Leinwand verlaufen. Sie mischen sich, egal was man tut. So sind auch wir, Mademoiselle . Du bist jetzt ein Teil von mir. Ich bin ein Teil von dir. Wir sind unzertrennlich.«
    Nach wie vor hielt er die Hände vor sich. Ich spürte eine Zugkraft.
    Das Ziehen wurde stärker, obgleich sich der Mann nicht vom Fleck rührte. Wie ein riesiger Magnet wurde ich von seinen stählernen Händen angezogen. Ich hatte das Gefühl, ich würde jeden Moment vornüberkippen.
    Aber ich wollte unbedingt zu ihm. Ich wollte und gleichzeitig wollte ich nicht. Auf allen vieren begann ich auf ihn zuzukriechen. Das Seil zog ich hinter mir her wie einen Schwanz. Der Mann wartete auf den Knien kauernd, den Kopf hielt er noch immer gesenkt und die Arme ausgestreckt, bis ich schließlich vor ihm kniete und sich unsere Knie fast berührten. Der Mann war viel größer als ich. Plötzlich wollte ich ihn umarmen. Wollte umarmt werden. Wie konnte das sein? Ich fand ihn abstoßend. Ich sah sein Gesicht jetzt deutlich – die fürchterliche Hakennase und den hängenden Schädellappen.
    Er wollte, dass ich ihn küsste, und ich wollte ihn küssen. Ich begann meinen Kopf zu drehen, um es uns einfacher zu machen.
    Wir waren kaum mehr einen Zentimeter voneinander entfernt. Wenn ich einatmete, atmete ich seinen Atem ein. Er lächelte. Dieser Mann war hier, um mir zu helfen …
    Ich blinzelte und sah in seinen Augen Bilder von Leichen. Blutverschmierte Wände. Haare. Kleidung. Möbel, an denen Blut klebte. Einen einzelnen Turnschuh …
    Der Name traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.
    Moreau.
    Plötzlich wusste ich wieder, wo ich war. Wer ich war.
    Moreau!
    Noch immer hatte er Macht über mich. Ich konnte mich nicht bewegen. Deshalb starrte ich ihn aus nächster Nähe an. Ich zwang das Blut in meine Augen, um sie zum Glühen zu bringen. Ich dachte an die Sonne … Sagans Sonne … die glühende, grelle, erbarmungslose Mittagssonne. Ließ sie von meinem Hirn in den ganzen Kopf ausstrahlen, wo sie jeden Winkel, jede Spalte mit so intensivem Licht füllte, dass mein Schädel der Kraft irgendwann nicht mehr standhielt.
    Für einen Moment schwankte der Vampir, dann wurde sein Lächeln zu einer Grimasse. Er stand auf und taumelte mit den Händen vor dem Gesicht rückwärts.
    Für einen kurzen Moment verstand ich, wie das champ funktionierte, spürte, dass der mit der größeren Willenskraft die Macht über den anderen hatte. Für einige Sekunden herrschte ich über ihn und verwandelte seine kleinen schwarzen Augen in faulenden Schleim.
    Noch immer hatte er sein Gleichgewicht nicht wiedergefunden. Für mich war es lange genug, um mich von seiner Anziehungskraft, dem Ruf, zu befreien. Ich machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, worauf er weiter zurückwich, immer weiter, bis er in der Nacht verschwunden war.

21
    Entdeckung
    Nur mit Mühe konnte ich mich aufrecht halten. Ich setzte mich auf den steinigen Boden und beugte mich vor. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so dort saß. Vielleicht waren es Stunden. Als ich schließlich zum Wasserhahn im Bunker humpelte, war die Sonne längst aufgegangen. Ich hielt meinen Kopf darunter und wusch mein Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich je zuvor so übel verletzt worden war.
    Was hatte er mir angetan?
    Ich zog mich aus und ließ kaltes Wasser über meine verletzte Seite laufen – so lange, bis der Schmerz langsam nachließ, obwohl ich mich noch immer so

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