Verletzlich
zurück, bis ich davon geweckt wurde, dass mir ein Speichelfaden übers Kinn lief.
Japsend beugte ich mich vor. Plötzlich wusste ich wieder, was ich beim letzten Mal getan hatte, als ich Moreau einen Besuch abgestattet hatte. Meine Narbe … Ich hatte meine Narbe berührt.
Wieder blickte ich auf das Muster, das die Karten bildeten, und fuhr mir mit dem Finger über die Erhebung an meinem Bein. Bring mich zu Moreau. Bring mich zu Moreau . Dann fügte ich etwas Neues hinzu. Ich begann ruckartig vor- und zurückzuschaukeln und gelangte in einen energischen Rhythmus, der zu dem Streichen über die Narbe passte. Bring mich zu Moreau. Bring mich zu Moreau. Bring mich zu Moreau.
Der Stuhl quietschte laut, als ich immer schneller wurde. Schneller, schneller . Schließlich spürte ich das inzwischen vertraute Gefühl, als hätte ich ein dickes Handtuch als Puffer zwischen Augen und Hirn. Langsam verloren die Karten ihre Form und schmolzen, wurden Teil des Tisches.
Jede Sekunde würde es jetzt so weit sein …
Moment mal.
Dieser Geruch … nach Zimt und Äpfeln.
Ich öffnete ein Auge und konnte Bäume sehen. Das andere Auge drückte gegen etwas Steiniges, Hartes. Ich lag auf der Seite, irgendwo draußen. Wie bin ich dorthin gekommen?
Lange konnte ich mich gar nicht bewegen und ein erster Versuch, mich aufzurichten, scheiterte. Mein Oberkörper fühlte sich doppelt so schwer an wie normal. Ich sank auf die Seite. Die Rippen schmerzten, als hätte jemand mit dem Vorschlaghammer darauf eingedroschen.
Eine Hand lag unter meiner Hüfte. Ich hob die andere und versuchte nach irgendetwas zu greifen, an dem ich mich hinaufziehen konnte. Doch es gab nichts. Ich betrachtete meine Hand vor dem Himmel, aber ich hatte keine Kontrolle mehr darüber. Sie schien nicht mehr zu mir zu gehören.
»Mom?«, sagte ich, ohne zu wissen, ob das Wort meine Kehle tatsächlich verließ.
Niemand kam. Schließlich gelang es mir, mich auf den Bauch zu drehen. Ich schob die Hände unter mich und drückte mich ab. Nachdem ich mich einige Zentimeter nach vorn bewegt hatte, brach ich erneut zusammen.
Ich drückte, so kräftig ich konnte, und rollte auf den Rücken. Über mir sah ich den bläulich-schwarzen Nachthimmel: blinkende Sterne, kleine Wolkenfetzen. Mir tat alles weh. Alles sah rund aus. Die Welt begann sich zu drehen. Ich schloss die Augen, doch der Schwindel wurde dadurch nur noch schlimmer.
Eine warme Flüssigkeit lief mir die Beine hinunter.
Plötzlich bemerkte ich, dass ich ein Seil um den Bauch trug. Ein Seil? Unter meinem Rücken schien es weiter zu verlaufen. Von dort schien auch ein Teil des Schmerzes zu kommen. Ich legte den Kopf ein wenig nach links und öffnete abermals die Augen – ich erblickte eine große Metallkonstruktion. An nichts konnte ich mich erinnern, nicht einmal an meinen Namen.
»Hallo«, sagte eine tiefe Stimme.
Mein Herz machte einen Ruck und schlug dann schnell weiter.
Mit Mühe gelang es mir jetzt, mich aufzusetzen. Ein Mann saß mir gegenüber im Schneidersitz auf dem Boden. Er trug ein graues, fleckiges Hemd mit kleinen Korkstückchen als Knöpfen. Dazu einen langen Mantel, eine dunkle Hose und Stiefel, an denen getrocknete Erde klebte. Seine Arme lagen auf den hervorstechenden Knien. Die Hände hielt er vor dem Körper zusammen. Oh nein. Was ist das? Sein ganzer Körper leuchtete in einem rötlichen Lavendelton.
Das machte keinen Sinn. Warum sollte jemand so leuchten, es sei denn, er war – etwas anderes als ein Mensch?
Um Gottes willen . Auch mit seinem Kopf stimmte etwas nicht, als hätte er einen grausamen Unfall gehabt. Ein langer, rosafarbener Lappen hing ihm über die Augenbraue. Sein Anblick war kaum zu ertragen.
Der Mann erhob sich; er war sehr groß. Dann ging er einige Schritte, das lavendelfarbene Licht folgte ihm. Ich drehte mich um und sah, was er betrachtete: die riesige Eisen- und Stahlkonstruktion. Wenn mein Gedächtnis doch bloß funktionieren würde. Wo war dieser Ort?
Was hatte er mit mir vor?
»Ach hier hast du dich versteckt«, sagte der Mann. »Ich habe in der Stadt gesucht, aber du warst die ganze Zeit woanders.« Er steckte die Hände in die Taschen. »Das ist eine Industrieanlage, dessen bin ich mir sicher. Nicht gerade modern, oder, Mademoiselle? «
Warum nannte er mich so? Der Mann lächelte und leckte sich über die Lippen. Seine Augen waren kohlrabenschwarz.
»Wer … bist du?«, brachte ich schließlich lallend hervor. In meinen Ohren klang es wirr und
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