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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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du stinkst nach Höhlenmuff.« Alle drei trugen die gleiche Kleidung wie am Vortag. Abermals fiel mir auf, wie schmächtig sie waren. Das kommt wohl vom Fasten …
    Ich wartete, bis sie sich auf den Stühlen niedergelassen hatten. Lena streckte sich auf einer Pritsche aus. »Eine chasse de sang macht bekanntlich müde«, sagte sie. »Du wirkst traurig, Emma.«
    »Ich komm schon drüber hinweg«, sagte ich und fragte mich, ob sie womöglich Gedanken lesen konnte. »War es … war die Jagd erfolgreich?«
    »Drei Überfälle nur für sie«, antwortete Anton. »Wenn Lena einmal dabei ist, dann richtig.«
    Eine Weile sprachen wir über Belangloses, dann über Wichtiges. Langsam ging es mir besser, als ich mehr über ihr Leben hörte. Einer nach dem anderen begann mir seine Geschichte zu erzählen.
    Anton machte den Anfang: »Oft werden die Leute von hinten genommen und erfahren nie, wer es war.« Wir saßen wieder auf der Mauer des maison de pierres . Nach dem muffigen Raum genoss ich die frische Brise, die mir ins Gesicht wehte.
    »Ich weiß schon, wem ich das alles zu verdanken habe«, fuhr Anton fort. »Bei mir war es eine Frau, die sich im Keller einer Episkopalkirche in Atlanta versteckte. Wir waren gerade aus New Jersey zugezogen und ich habe dort jede Woche Kohlen für den Betrieb meines Vaters ausgeliefert. Es war ein Novemberabend und deshalb schon früh dunkel. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich mir eine dickere Jacke gewünscht hätte. Die Zeiten waren hart! Der Erste Weltkrieg ging gerade zu Ende. Wenn er noch länger gedauert hätte, wäre ich selbst noch eingezogen worden. Um gegen die Hunnen, die Deutschen, zu kämpfen. Schon seltsam! Als wäre es die Geschichte von jemand anderem.«
    Er lächelte und fuhr dann fort: »Ich wusste nicht, dass sie sich dort unten befand. Als ich eine Ladung Kohle in den Schacht kippte, habe ich sie geweckt. Ich glaube nicht, dass sie eine böse Person war, aber sie war hungrig und ich war da. Der Kohleverschlag hatte hohe Wände und eine kleine Tür. Manchmal türmte sich die Kohle dahinter auf und blockierte sie. Dann musste ich runtergehen und sie wieder freischaufeln. Sie kauerte mit dem Rücken in einer Ecke an der Wand. Sie war viel älter als ich. Ich war siebzehn. Sie war so dünn. Ihr Haar war ebenfalls dünn. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie noch lebte, als sie plötzlich den Kopf hob und mich anstarrte. Ich versuchte zu fliehen, aber ich rutschte auf der Kohle aus und fiel hin. Sie war zu schnell, im nächsten Moment war sie über mir. Den Schmerz ihres Bisses spüre ich noch heute.
    Als ich wieder zu mir kam, saß sie neben mir. Immer wieder versicherte sie mir, wie leid es ihr täte. Sie weinte und schluchzte und entschuldigte sich, dass sie mich nicht getötet hatte, dass sie mich mit diesem Vermächtnis am Leben gelassen hätte.«
    Lena und Donne beobachteten ihn schweigend. Ich überlegte, wie oft sie die Geschichte wohl schon gehört hatten. Seltsam war es schon, wie dieser Anton, der aussah wie ein Kind und redete wie ein Erwachsener, von einer fernen Zeit erzählte. Von einer Zeit, in der sie zum Heizen noch Kohle benutzt haben.
    Dann löcherte Anton Donne, ihre Geschichte zu erzählen. »Nun mach schon, wir machen das alle. Sonst ist es unfair.«
    »Ist ja schon gut«, willigte sie schließlich ein. »Ich war fünfzehn. Es war ein Mann. Es war dunkel. Er hat mich halb tot liegen lassen. Was willst du sonst noch wissen?« Sie warf mir einen kühlen Blick zu.
    »Ich habe dich nicht danach gefragt«, antwortete ich.
    »Es ändert ohnehin nichts«, sagte Donne. »Wir sind hier und wer will schon in der Vergangenheit leben? Ich bin die Vergangenheit. In einigen Jahren bin ich neunzig. Was sagst du dazu?«
    »Du bist noch jung«, entgegnete Anton. Und mir wurde bewusst, dass er selbst über hundert war. »Donne hat es während der Weltwirtschaftskrise erwischt«, fuhr Anton fort. »Und seitdem ist sie in der Krise.« Er lachte.
    Verlegen schauten wir alle in die Runde. Dann ergriff plötzlich Lena das Wort.
    »Ich weiß nicht, ob Jahre für uns wirklich eine Bedeutung haben«, sagte sie. »Rein rechnerisch bin ich uralt, fühle mich aber kein bisschen älter als an dem Tag, an dem ich verwandelt worden bin. Erfahrener, das sicherlich. Aber nicht älter. Ich habe die Alten über die Jahre beobachtet und bin zu der Überzeugung gekommen, dass sie sich älter fühlen, weil sie älter sind. In ihren Körpern meine ich. Ich glaube, sonst wäre es wie

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