Verletzlich
bei uns.«
»Und was ist mir dir, Lena?«, fragte ich. »Wie ist deine Geschichte?«
»Na großartig«, stöhnte Donne und sah Lena genervt an. »Fang schon an, es wird uns nicht umbringen, sie noch einmal zu hören.«
Lena nickte lächelnd und blickte dann wieder zu mir.
»Ich lebte in einer kleinen freichristlichen Gemeinde namens Bixby in Tennessee. Wir waren eine abgeschlossene Gemeinschaft. Bixby war von einem Mann namens Philip Orton gegründet worden, einem ehemals anglikanischen Geistlichen aus Connecticut. Pastor Orton hatte sich mit seiner Kirche gestritten und formal ihrem Bekenntnis abgeschworen. Mit einer Handvoll Gefolgsleuten ist er dann nach Süden gezogen, wo das Land günstig war. Sein Traum war, ein utopisches Eden zu gründen. Er nannte sich zwar christlich, aber die Hälfte von uns, die Frauen, hatten keinerlei Freiheiten und mussten tun, was Pastor Orton anordnete. In diese Welt wurde ich hineingeboren. Als ich den Pastor kennenlernte, war er bereits über sechzig. Ich weiß noch, dass er wehendes, weißes Haar hatte und immer einen glänzenden zylinderähnlichen Hut trug, sogar drinnen. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn je ohne diesen Hut gesehen zu haben. Außer dieses eine Mal. Und das war genug. An dem Tag, an dem es geschah, hatte ich mich von Pastor Orton schon wochenlang ferngehalten. Instinktiv wusste ich, worauf er aus war. Selbst in den Bänken unserer kleinen Kirche spürte ich es. Seine lüsternen Augen folgten mir überallhin.«
»War er ein Vampir?«, fragte ich.
»Geduld«, mahnte Anton.
Lena fuhr fort. »Eines Nachmittags kam ich mit einem Berg Wäsche von der Quelle zurück, als der Pastor mir hinter dem Gemischtwarenladen auflauerte und mich belästigte.« Einen Moment lang hielt sie inne, um sich zu sammeln. »Es gelang mir, ihn abzuschütteln, doch nach diesem Erlebnis war ich vollkommen verängstigt und sorgte dafür, dass ich nie mehr mit ihm allein war. Ich hatte niemanden, dem ich davon erzählen konnte. Bei meiner Mutter habe ich es versucht, aber sie war derartig von dem Pastor beeinflusst, dass sie mir nicht glaubte. Und mein Vater … bei ihm habe ich es nicht einmal versucht. Er war einer von Pastor Ortons Diakonen. Fast immer verbarg ich mich und wurde zur Stubenhockerin. Ich hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Im reifen Alter von zweiundzwanzig Jahren schien mein Leben zu Ende zu sein. Und dann kam er.«
Lenas Augen glänzten und sie holte bebend Luft.
»Wer?«, fragte ich.
»Ich kannte ihn nur unter dem Namen Valentin.«
»Das meinst du nicht ernst«, rief ich.
»Warte, es kommt noch besser«, sagte Anton grinsend und Donne versetzte ihm einen Stoß in die Rippen.
»Er hieß wirklich so«, sagte Lena. »Jedenfalls kannte ich keinen anderen Namen. Valentin war ein Kreole aus Baton Rouge. Zufällig machte er auf dem Weg nach Boston bei uns halt. Es war Frühling, als Valentin mitten in einer schrecklich stürmischen Nacht in unser Dorf kam. Das Schicksal wollte es, dass er bei mir anklopfte. Ich erwachte und öffnete die Tür des Schulhauses, wo ich schlief – ich war die einzige Lehrerin in Bixby –, und dort stand er. Mit einer schwungvollen Bewegung nahm er den breitkrempigen Hut vom Kopf und verbeugte sich vor mir. Es war, als wäre der Herrgott selbst eingetreten. Noch nie hatte ich einen so schönen Mann gesehen. Die Männer in unserer Gemeinschaft wirkten so schlicht gegen ihn. Ich war fasziniert von seinen muskulösen Armen, der breiten Brust und dem langen, schwarzen Haar. Allein seine Stimme, sein Akzent ließen mich dahinschmelzen.
Du musst verstehen … ich war vollkommen unschuldig. Und ich lechzte nach Veränderung. Oft hatte ich daran gedacht fortzulaufen. Aber wohin? Und wovon sollte ich leben? Bis Valentin kam, schien alles hoffnungslos zu sein.
Von jetzt an kam er jede Nacht. Keine Sekunde zweifelte ich daran, dass es richtig war. Dafür war es viel zu gut. Dafür lebte ich. Selbst meine Eltern bemerkten meine rosigen Wangen und dass ich plötzlich wieder Lebenskraft ausstrahlte. Wir verliebten uns ineinander, aber wir mussten es geheim halten. Valentin kam erst lange nach Einbruch der Dunkelheit, wenn ganz Bixby schlief. Wie sehr ich dafür lebte, ihm nahe zu sein! Du glaubst nicht, wie berauschend es war. Wir machten Pläne. Ich wollte mit ihm fliehen. Für mich gab es keinen Grund mehr zu bleiben. Er würde mich beschützen. Schließlich war die Nacht der Flucht gekommen. Ich hatte mein gesamtes Hab und Gut in
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