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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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einem kleinen Bündel zusammengeschnürt. Meiner Mutter hinterließ ich einen Abschiedsbrief im Brotkasten und wartete im Schulzimmer. Valentin kam. Er hatte ein Pferd für mich besorgt. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich freute. Gerade wollten wir gehen, als die Tür aufflog. Pastor Orton stand vor uns. Bis heute weiß ich nicht, wie er von uns erfahren hat. Ich weiß nur, was danach geschah.«
    Lena hielt abermals inne und holte tief Luft. Ich selbst war mir nicht sicher, ob ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch atmete. Die Nacht, alles um mich herum, war verschwunden. »Erzähl weiter«, bat ich sie.
    »Vor Wut brüllend kam der Pastor auf uns zugestürmt, nur um im nächsten Moment mit so viel Wucht durch den Raum geschleudert zu werden, dass er am gusseisernen Ofen förmlich zerschellte. Was auch immer Valentin getan hatte, ich hatte es nicht gesehen. Fast war es, als wären Geister am Werk gewesen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wir stürzten in die Nacht hinaus, sprangen auf die Pferde und verschwanden im Wald. Ich weiß nicht, wie lange wir geritten waren, aber wir waren viele Kilometer von Bixby entfernt, als wir an eine Lichtung mitten in der bewaldeten Wildnis gelangten, kurz hinter der Grenze von Kentucky. Valentin machte sich daran, dort ein provisorisches Lager zu errichten. Ich konnte nicht verstehen, warum er es so eilig hatte.
    ›Ich muss dich jetzt allein lassen‹, sagte er, als er fertig war. ›So leid es mir tut, aber ich kann nicht anders. Bald geht die Sonne auf. Du musst dich ausruhen. Bei Sonnenuntergang bin ich wieder bei dir.‹
    Ich weinte und war untröstlich. Valentin bat mich, ihm zu vertrauen. Und dann war er verschwunden. Ich versuchte zu schlafen, doch jedes Geräusch ließ mich aufschrecken. Obwohl es hell geworden war, wurde es der längste Tag meines Lebens. Ich war so müde und konnte kaum klar denken. Ich war ganz allein in einem riesigen Wald und hatte Angst, dass er nicht zurückkehren würde. Als die Sonne begann hinter dem Horizont zu verschwinden, war ich nicht mehr weit vom Wahnsinn entfernt. Doch dann war er wieder da. Meine Freude war so unbändig, dass ich ohnmächtig wurde. Mehrere Stunden musste ich bewusstlos gewesen sein. Als ich erwachte, hatte sich Valentin beim Licht einer einzelnen Kerze über mich gebeugt. Er streichelte mich. Er küsste mich. Diesen Kuss werde ich nie vergessen. Er öffnete meinen Mantel, nahm mir das Schultertuch ab und begann meine Bluse aufzuknöpfen. Ich zitterte, aber nach all dem, was ich durchgemacht hatte, nach all dem Schrecken und der Freude, war ich zu allem bereit. Sogar dafür.
    ›Vergib mir, mein Schatz‹, sagte er. ›Rien ne peut m’arrêter maintenant.‹ «
    »Das ist auch Französisch, oder?«, hakte ich sofort nach. »Aber was heißt es?«
    »Leider war es kein kreolischer Satz, der bedeutete, dass er mich unendlich liebte«, seufzte Lena und lachte traurig bei dem Gedanken. »Nein, es war tatsächlich ganz normales Französisch und heißt: Jetzt kann mich nichts mehr aufhalten . Das hat er gesagt, bevor er sich zu meinem Ohr hinabgebeugt hat und …«
    »Er hat dich überwältigt«, sagte ich.
    »Er hat von mir getrunken. Er hat Blut aus meiner Kehle gesaugt.«
    Langsam schloss Lena die Augen und sie blieben zu, als hätte die Erinnerung sie verklebt. Dann hob sie die Hand an den Hals, an eine Stelle direkt unterhalb des Kiefers. Ihr gesamter Körper schien in sich zusammenzusacken.
    »Ich war geschockt angesichts dessen, was er getan hatte. Valentin war ein Monster. Wie konnte dieser Mann, den ich liebte, mir so etwas antun? Ich wollte ihm mit der Faust ins Gesicht schlagen, ihn umbringen. Aber ich weiß noch, wie hilflos meine Versuche gegen seine Kraft waren. Am Ende bin ich einfach gegangen und er hat mich ziehen lassen. Ohne dass ich es bemerkt habe, ist mir Valentin allerdings durch den Wald gefolgt. Er hat gewartet, bis ich vor Erschöpfung an einem Bach zusammenbrach, um zu trinken, bevor er sich mir wieder näherte. Aber er hat sich mir nicht physisch genähert, sondern durch den Ruf .«
    »Warte mal, was ist das denn jetzt, der Ruf? «, fragte ich dazwischen und musste sofort an Moreau denken, der das Wort immer wieder benutzt hatte, als ich zu ihm kommen sollte.
    Lena schien mich einen Moment zu mustern, bevor sie eine Gegenfrage stellte: »Hast du schon mal davon gehört?«
    »Bitte erzähl weiter. Entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe.«
    »Gut. Als sich Valentin mir abermals näherte, wurde

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