Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
er.
Der Junge wippt wortlos weiter. Vor und zurück.
Er hat irgendetwas gesehen, denkt Sund. Oder gehört.
Seine Knie zittern, als er sich aufrichtet, am Rollstuhl vorbeigeht und die Tür zu dem Patientenzimmer aufdrückt.
Erna Pedersen sitzt wie immer aufrecht da. Aber nicht das lässt Sund unwillkürlich einen Schritt zurückweichen. Über ihr sonst so weißes Gesicht ziehen sich von den Augen bis zu den Wangen hinab dunkle, klebrige Streifen. Er will gar nicht wissen, was die verschmierten Brillengläser verbergen. Und dann strömt der Gestank des Todes ihm entgegen.
2
Henning Juul kauert sich auf der abendlich kalten Tribüne des Dælenenga-Stadions zusammen. Über ihm haben sich die Wolken zu einem grauen Einerlei zusammengezogen. Der Wind, der am Morgen noch Staub und Unrat durch die Straßen Oslos gefegt hat, ist ein wenig zur Ruhe gekommen, trägt aber noch immer einen Rest Wut in sich.
Henning sitzt an diesem Platz, sooft er kann. Ob es warm ist oder kalt, spielt keine Rolle. Aus irgendeinem Grund fällt ihm hier das Denken leichter, auch wenn es ihn schmerzt zu sehen, wie Jungen und Mädchen verschiedenen Alters genau das tun, was sicher auch Jonas getan hätte, wäre er noch am Leben. Ein acht- oder neunjähriger Junge hat einen Ball am Fuß, verliert ihn aber gleich wieder. Ein Blondschopf mit kurzen Haaren nimmt ihn ihm ab und dribbelt damit in Richtung Tor. »Verdammt, Adil! Der Ball steht doch nicht unter Strom!«, brüllt der Trainer im schwarzen Trainingsanzug. Sein Gesicht ist rot angelaufen. »Du musst besser stoppen!« Der andere Junge, der inzwischen ein Tor geschossen hat, läuft an Adil vorbei und wirft ihm einen triumphierenden Blick zu. »Gut gemacht, Jostein, weiter so!« Der Trainer klatscht in die Hände. Das Spiel geht weiter.
Henning folgt Adils Bewegungen. Der Junge wirkt resigniert, abwesend. Als wäre er lieber woanders.
Der Kleine ist Henning schon öfter aufgefallen. In der Regel kommt er allein, und er wird auch nie abgeholt, wenn das Training zu Ende ist. Manchmal wechselt er ein paar Worte mit einem anderen Jungen aus der Mannschaft, aber dieser Junge ist heute nicht da. Vermutlich hat er an einem Sonntagabend etwas anderes vor.
Ich eigentlich auch, denkt sich Henning, aber er musste einfach an die frische Luft und nachdenken. Doch wie viel Frischluft Henning seinem Kopf auch gönnt, es dauert nie lange, bis die Fragen wieder auftauchen. Was wusste Tore Pulli über den Brand, der zu Jonas’ Tod führte? Und war es dieses Wissen, das ihn das Leben kostete?
Hennings Handy vibriert in der Innentasche seiner Jacke. Er nimmt es heraus und stöhnt. Der Name auf dem Display sagt ihm, dass etwas passiert sein muss und der Rest des Abends damit vermutlich dahin sein wird. Trotzdem nimmt er das Gespräch entgegen.
»Hallo, Henning, ich bin’s. Hast du gehört, was geschehen ist?«
Henning hält das Handy ein paar Zentimeter von seinem Ohr weg. Kåre Hjeltland braucht eigentlich kein Telefon, so laut, wie er spricht. Er ist der engagierteste Nachrichtenmann, den Henning kennt. Er steht ständig unter Strom und leidet am Tourette-Syndrom, auch wenn die unwillkürlichen Schimpfworttiraden an diesem Abend vorübergehend in Deckung gegangen zu sein scheinen. Doch Henning weiß, wie Hjeltland beim Reden ruckartig den Kopf zurückwirft.
Er redet weiter, bevor Henning etwas sagen kann. »Eine alte Frau ist in einem Altersheim ermordet worden, gleich bei dir um die Ecke. Hast du die Möglichkeit, da mal vorbeizugehen? Ich sollte heute Abend besser nicht unter Leute gehen.«
Das solltest du nie, denkt Henning und sieht auf die Uhr.
Eigentlich hatte er vor, nach Hause zu gehen und endlich einmal mehr als zwei Stunden am Stück zu schlafen. Andererseits weiß er, dass es in der Redaktion nur wenige Kollegen gibt, die wirklich in der Lage sind, über einen Mord zu berichten. Iver Gundersen ist nach der Tracht Prügel, die er vor ein paar Wochen in der Josefines gate bezogen hat, noch immer krankgeschrieben, und an einem normalen Sonntagabend sind in der Redaktion sonst maximal zwei Leute anwesend: der Chef vom Dienst, der die Nachrichten aus aller Welt sichten muss, und ein Sportjournalist, der die Fußballergebnisse des Abends aufbereitet.
Henning holt tief Luft und wirft einen letzten Blick auf die dichter werdenden Wolken. Schon wieder ein Mord, denkt er. Mit allem, was dazugehört. Überstunden, also weniger Zeit, nach dem- oder denjenigen zu suchen, die meine Wohnung in Brand
Weitere Kostenlose Bücher