Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
hat eine Weile gedauert, bis Bjarne mit Ann-Mari warm wurde. Klein, gerade mal eins achtundfünfzig, kurzes, ungekämmtes Haar. Nie geschminkt. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals lächeln gesehen zu haben, und er hat festgestellt, dass sie es mit der Körperhygiene nicht allzu genau nimmt. Außerdem scheint sie immun gegen jede Charmeoffensive oder Smalltalk zu sein. Fragen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben, beantwortet sie nicht. Aber sie ist zweifelsohne eine der besten Kriminaltechnikerinnen, die Bjarne in seinem Leben kennengelernt hat. Immer gründlich, immer aufmerksam. Immer respektvoll. Er hat sie noch nie einen Kaugummi schmatzen hören, nie hat sie versucht, die angespannte Stimmung durch eine geschmacklose Bemerkung über das Äußere oder das Leben eines Opfers aufzulockern. Sie ist das größte Arbeitstier, das Bjarne je begegnet ist, und hat ein ausgeprägtes Talent, sich in die Gedankenwelt der Kriminellen hineinzuversetzen. Nachzuspüren, was geschehen sein könnte. Wäre sie bei der Spurensicherung nicht unentbehrlich, würde er sie gerne in sein Ermittlungsteam aufnehmen.
Sie steht auf, hebt die Kamera wieder an und macht weitere Bilder. Dann zeigt sie auf eine Bibel, die am Boden liegt. »Vermutlich hat er zuerst die benutzt.«
Bjarne hebt abwehrend die Hand.
»Ich habe sie mir noch nicht genauer angeschaut«, fährt sie fort. »Aber auf den ersten Blick sieht man dreizehn Einkerbungen.«
»Dreizehn Einkerbungen«, murmelt Bjarne leise vor sich hin. Der Täter muss rasend vor Wut gewesen sein.
Das Zimmer sieht genauso aus, wie er es sich vorgestellt hat. Klein, eng, kalt. Gemachtes Bett. Unpersönliche gelbe Gardinen. Gesprenkelter Bodenbelag. Möbel ohne Seele. Auf einem Tischchen stehen verwelkte Blumen. Eine aufgeschlagene Fernsehzeitung, darin eine Sendung rot umkringelt, rote Kreuze über anderen Sendungen. Rote Wollknäuel. Stricknadeln, lange und kurze. Ein unbenutztes Schnapsglas. Ein Glas Wasser auf dem Nachtschränkchen.
Bjarne fühlt sich an eine Gefängniszelle erinnert. Und er merkt, wie es ihm vor dem Gedanken graut, alt zu werden, auf neun Quadratmeter eingepfercht zu sein.
Das Opfer strahlt etwas Friedliches aus. Die Frau sitzt auf einem Kissen, Bjarne erkennt gelbe und braune Blüten darauf. Auf ihrem linken Arm liegt die eine halb fertig gestrickte Socke. Klein, rot.
Bjarne beugt sich zu ihr hinab. Obgleich er sich innerlich auf diesen Moment vorbereitet hat, spürt er trotzdem das vertraute Kribbeln hinter der Stirn. Unter den verschmierten Brillengläsern ziehen sich rote Streifen Blut über das runzlige Gesicht der Dreiundachtzigjährigen. Sie sehen aus wie die Zweige eines Baumes. An der Stelle, wo die Pupillen sein müssten, sieht er etwas Helles, Glänzendes.
Die Spitzen von Erna Pedersens Stricknadeln.
»Hast du die Würgemale am Hals gesehen?«
Bjarne beugt sich wieder vor und schiebt mit einem Stift, den er aus seiner Jackentasche gezogen hat, eine Haarsträhne beiseite. »Das ist nicht dein Ernst …«
Ann-Mari Sara zieht beleidigt eine Augenbraue hoch. »Bei dem bisschen Blut können wir davon ausgehen, dass das Herz nicht mehr geschlagen hat, als er ihr die Stricknadeln in die Augen gerammt hat.«
»Er hat sie vorher erwürgt«, stellt Bjarne fest.
Sie nickt. »Aber es gibt noch andere interessante Dinge.«
Bjarne dreht sich zu ihr um.
»Uns fehlt die Tatwaffe«, sagt sie.
»Wie meinst du das?«
»Du kannst mit einem Buch keine Stricknadel so tief in einen Augapfel hineinschlagen. Da sind die Nase und die Stirn im Weg. Er muss noch etwas anderes benutzt haben. Sieh mal!« Sie zeigt auf die dunkelbraune Strickjacke des Opfers. Auf den Schultern liegt eine dünne weiße Staubschicht. »Ich weiß noch nicht, was das ist. Aber der Täter muss noch ein anderes Hilfsmittel benutzt haben, um ihr die Stricknadeln in den Kopf zu hämmern. Ich vermute stark, dass sie auch darin Kerben hinterlassen haben.«
»Sind die Nadeln ganz durch den Schädel gegangen?«
»Nein«, sagt sie und klopft sich mit den Knöcheln an die Stirn. »Der Schädelknochen ist dick und wird mit dem Alter immer dicker, besonders bei Frauen. Aber es sieht zumindest so aus, als hätte er es versucht.«
Bjarne zieht eine Grimasse. »Gibt es noch mehr, was ich wissen sollte?«
»Ja.« Sie schiebt sich an ihm vorbei und tritt an die Kommode vor einen Bilderrahmen, der am Boden liegt. Das Glas ist zerbrochen. Ein breiter Riss verläuft durch das Foto, trotzdem erkennt Bjarne eine
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