Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
»Hat sich von der Polizei noch keiner geäußert?«
Nora schüttelt den Kopf. »Die Pressekonferenz ist morgen Vormittag, nehme ich an.« Sie seufzt.
»Anzunehmen.«
Morgen Vormittag ist weit weg. Darum nimmt Henning sein Handy und schickt eine Nachricht an Bjarne Brogeland, um ihn zu fragen, ob sie nicht vielleicht einen kurzen Plausch über den Vorfall halten können.
Die Antwort kommt wenige Minuten später.
Busy wie ein Lemming. Melde mich, sobald ich 2 min habe.
Henning sieht sich um. Es ist spät geworden. In den Redaktionen der klassischen Zeitungen ist bald Deadline und die Chance, dass die Außenreporter an diesem Abend noch irgendetwas Neues liefern, gering. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Niemand weiß, wer das Opfer ist oder was mit ihm geschehen ist. Für Henning gar nicht so schlecht. Alles, was er jetzt braucht, sind ein, zwei Details, die kein anderer hat.
Er verschafft sich einen raschen Überblick über die Konkurrenz im Internet und stellt fest, dass bisher niemand etwas Konkretes berichtet hat. Und er weiß, dass so spät abends kein Journalist mehr ins Pflegeheim gelassen wird. Die Patienten und die Ermittlungen gehen vor. Es ist also vergeudete Zeit, vor dem Eingang herumzuhängen und die Polizisten zu beobachten, die im Gebäude ein und aus gehen.
Aber was ist eigentlich mit den Angestellten? Den Besuchern? Wo gehen die ein und aus?
Henning fängt Noras Blick ein und signalisiert ihr, dass er abhaut.
Nur hat er nicht vor, nach Hause zu gehen.
5
Ein Pfleger in weißer Hose und in weißem Hemd sitzt auf einem Stuhl vor dem Fernsehzimmer und kaut an seinen Fingernägeln. Plötzlich springt er auf, als hätte er sich an der Sitzfläche verbrannt.
Bjarne Brogeland bleibt vor ihm stehen. »Ole Christian Sund?«
Der Mann nickt und reibt sich mit der rechten Hand den Nacken. Sund trägt einen blonden Zottelbart im pockennarbigen Gesicht. Seine Brauen sind über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Aus den luftigen Ärmeln ragen dünne Arme.
»Wie geht es Ihrem Sohn?«, erkundigt sich Bjarne, zieht sich einen Stuhl heran und signalisiert Sund, dass er sich wieder setzen soll.
»Ich weiß es nicht«, sagt der Pfleger und senkt den Blick. »Er ist bei seiner Mutter. Sie antwortet nicht auf meine SMS . Bestimmt geht es ihm gut.«
»Ach ja, Mütter«, sagt Bjarne und lächelt verständnisvoll. »Ich gehe davon aus, dass Ihnen Krisenhilfe angeboten wurde?« Er zieht Notizblock und Stift aus der Tasche.
»Ja, danke. Aber Martine ist Psychologin, und keiner kennt Ulrik besser als sie, darum …«
»Verstehe«, sagt Bjarne. »Es wäre trotzdem gut, wenn wir so schnell wie möglich mit ihm reden könnten. Möglicherweise hat er etwas Wichtiges gesehen.«
Sund nickt langsam und schiebt sich die blonden, langen Haare aus der Stirn. »Ich habe ihn noch nie so erlebt«, sagt er leise. »Als wäre er in eine andere Dimension eingetreten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat einfach nur dagesessen und mit dem Oberkörper vor und zurück geschaukelt, mit völlig abwesendem Blick.« Sunds Gesicht verzieht sich zu einer besorgten Grimasse.
»Hat er irgendetwas gesagt?«
»Erst nicht. Aber später, als ich wieder aus Erna Pedersens Zimmer kam, da hat er was von Bruchstrichen gemurmelt.«
»Bruchstriche?«
»Ja, das hat er immer und immer wiederholt: Bruchstriche, Bruchstriche, Bruchstriche.«
Bjarne notiert sich das Wort in Großbuchstaben.
»Er hat sich in letzter Zeit sehr für Mathe interessiert, vielleicht ist das eine Erklärung, ich weiß es nicht.«
»Wie alt ist er?«
»Neun.«
Bjarne nickt. »Ich will Sie nicht unnötig aufhalten«, sagt er dann. »Aber haben Sie irgendeine Vermutung, wer das getan haben könnte?«
Sund atmet deutlich vernehmbar aus. »Nein.«
»Ihnen fällt niemand ein, der ein schlechtes Verhältnis zu ihr hatte?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Hat es in letzter Zeit Meinungsverschiedenheiten gegeben? War irgendjemand wütend auf sie?«
Sund denkt einen Moment lang nach. »Einige Patienten können ziemlich aggressiv werden, und hin und wieder gerät eine Diskussion aus den Fugen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand aus dem Heim Erna das hier angetan haben soll. Sie war eher unauffällig. Ziemlich hinfällig und kränklich. Wenn sie jetzt nicht auf diese Weise gestorben wäre, hätte sie über kurz oder lang etwas anderes dahingerafft.«
Bjarne kratzt sich mit dem Stift am Kopf. Eine Pflegerin läuft mit hastigen Schritten an ihnen
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