Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
gesteckt haben. Trotzdem antwortet er seufzend: »Klar, ich kümmere mich darum.«
3
Kriminalkommissar Bjarne Brogeland parkt vor dem Eingang des Pflegeheims und steigt aus seinem Wagen in den Herbstabend hinaus, knallt die Autotür zu und sieht sich um. Eine schmale Einbahnstraße zieht sich zwischen den hohen Gebäuden mit ihren farblosen Fenstern hindurch, die sich dem Himmel über Grünerløkka entgegenstrecken. Der Asphalt glänzt im Schein der Straßenlaternen. Die Straße ist für Autos gesperrt, aber vor der Absperrung drängen sich Schaulustige.
Es ist immer das Gleiche. Die Leute wollen etwas sehen, wenigstens einen kurzen Blick auf den Tod erhaschen, ein Detail aus den morgigen Schlagzeilen schon jetzt ergattern, damit sie damit angeben können, dort gewesen zu sein, es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Der Tod in einem Leichensack. Der Tod im Fokus eines in Weiß gekleideten Kriminaltechnikers.
Bjarne hat sie nie verstanden, diese Faszination für Blutlachen und Autowracks und das Bedürfnis, sich freiwillig diesen traumatischen Anblicken auszusetzen. Die meisten Leute wissen nicht, dass das Bild eines deformierten menschlichen Körpers oder der Geruch eines zerschmetterten Schädels nicht einfach so verschwindet, wenn man sein Leben weiterlebt, ins Kino oder ins Café geht oder sich die Hucke vollsäuft. Haben sich diese Erinnerungen erst einmal festgebissen, können sie jederzeit wieder auftauchen, noch sehr, sehr lange.
Bjarnes Vater hat ihm einmal erzählt, wie sie eine Eisbärin in der Selbstschussanlage erlegt hatten, als er in den Sechzigern für ein Forschungsprojekt unter der Regie der ESRO in Neu-Ålesund arbeitete. Sie hatten die Bärin mit Futter angelockt. Als sie den Kopf in den Holzkasten steckte, in dem das Futter lag, löste das einen Mechanismus aus, der den tödlichen Schuss abgab. Als Bjarnes Vater und sein Kollege die Bärin holen wollten, liefen zwei Junge verwirrt um die Mutter herum. Er werde ihre Schreie niemals vergessen, hat er gesagt. »Sie klangen genau wie Menschenkinder, Bjarne. Das hättest auch du sein können, der da geschrien hat.«
Der Anruf hat Bjarne vor gut einer halben Stunde erreicht. Er hatte gerade seine fünf Jahre alte Tochter Alisha ins Bett gebracht und sich aufs Sofa gesetzt. Schon die Beschreibung am Telefon jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und genau dieses Gefühl stellt sich wieder ein, als er auf das Gebäude zugeht. Morde an alten Frauen haben etwas Spezielles.
Bjarne hebt den Blick und sieht zu den Wolken hinauf. Er zieht sich den Jackenkragen enger um den Hals. Es geht dunkleren, kälteren Zeiten entgegen.
Links von der Tür hängt ein Schild, mit dem potenzielle Einbrecher darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass das Gelände videoüberwacht ist. Gut, denkt sich Bjarne. Vielleicht ist der Täter auf einem der Bänder zu sehen.
Er dreht sich um und wirft einen Blick auf die Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite. Vorgezogene Gardinen, geschlossene Fensterläden, im Erdgeschoss ein Friseur. Daneben ein Café mit Namen Sound of Mu. Es scheint geschlossen zu sein, obwohl drinnen schwaches Licht scheint. Immerhin ist Sonntag, denkt er, der große Spazier- und Cafétag in Grünerløkka. Theoretisch könnten also etliche Leute den Täter gesehen haben, als er aus dem Pflegeheim kam – falls er das Gebäude denn durch den Haupteingang verlassen hat.
Bis er im vierten Stock aus dem Aufzug tritt, begegnet Bjarne keiner Menschenseele. Vor dem Zimmer von Erna Pedersen bleibt er vor dem rot-weißen Absperrband stehen und zieht sich himmelblaue Plastikschoner über die Schuhe, während irgendwo Stimmen und Piepstöne aus einem Funkgerät bis an sein Ohr dringen.
Bevor er in das Zimmer geht, atmet er noch einmal tief durch. Wie immer hofft er, dass die Wände mit ihm reden mögen, dass es in der unübersichtlichen Landschaft, die vor ihm liegt, Pfade gebe, denen er folgen kann. Und er nimmt sich bewusst vor, nicht gleich die Leiche anzusehen, sondern sich erst einmal auf die anderen Details in dem Zimmer zu konzentrieren. Die Gerüche will er verdrängen, soweit das möglich ist. Es ist schwer, das Parfüm des Todes abzublocken. Häufig wacht er mitten in der Nacht mit ebendiesem Geruch in der Nase auf.
Bjarne nickt der Kriminaltechnikerin Ann-Mari Sara zu, als er den Raum betritt. Sie kniet neben den Füßen der Toten, eine Kamera vor dem Gesicht. Sie setzt den Apparat ab und beantwortet Bjarnes Gruß ebenfalls mit einem Nicken.
Es
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