Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
vorbei.
Sund greift nach seinem Handy und aktiviert das Display. Legt es gleich wieder weg.
»Haben Sie bemerkt, ob im Lauf des Tages jemand in ihrem Zimmer war?«
Sund rutscht auf dem Stuhl hin und her. »Ich habe fast den ganzen Abend am anderen Ende des Korridors gearbeitet. Hier ist momentan viel los.«
Bjarne nickt wieder. »Der Besucherliste habe ich entnommen, dass sie heute keinen Besuch hatte. Wissen Sie, wie das sonst ist? Hatte sie regelmäßige Besuche?«
»Da sollten Sie vielleicht besser Daniel fragen. Daniel Nielsen. Er kümmert sich hauptsächlich um sie. Aber ich glaube nicht, dass sie ihr die Tür eingerannt haben, um es mal so zu sagen.«
Bjarne notiert sich Nielsens Namen und zieht einen Kreis darum. »Wie sieht es mit Verwandten aus? Ist denn irgendein naher Verwandter regelmäßig hier gewesen?«
»Nein. Ich erinnere mich kaum noch, wie ihr Sohn überhaupt aussieht.«
»Sie hatte also einen Sohn?«
Sund nickt.
Bjarne schreibt auf seinen Block: Familie des Sohnes auf dem kaputten Bild?
»Die Videokamera über dem Haupteingang im Erdgeschoss«, setzt er an, doch Sund schüttelt bereits den Kopf.
»Die ist nur da, damit wir außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten sehen, wer kommt und geht.«
»Die Leute gehen also tagsüber unbeobachtet ein und aus?«
»Ja.«
Wieder nickt Bjarne. »Ist hier heute irgendetwas Spezielles vorgefallen? Irgendwas Außergewöhnliches?«
Sund denkt einen kurzen Augenblick nach. »Im Laufe des Nachmittags waren die Ehrenämtler da, um mit den Alten zu spielen und zu singen.«
»Aha?«
»Die kommen alle zwei Wochen, glaube ich.«
»Ist das beliebt?«
»Ja, sehr.«
»Hat Erna Pedersen an den Treffen teilgenommen?«
»Normalerweise schon, aber heute habe ich sie nicht dort gesehen, wenn ich es mir recht überlege.«
Bjarne macht sich eine Notiz. »Wie viele Ehrenamtliche sind das denn in der Regel?«
»Hm, vier oder fünf, würde ich sagen.«
Bjarne hat schon mehrfach mit den freiwilligen Helfern zu tun gehabt, jungen wie alten, die sich für andere Menschen engagieren, ohne je eine Krone dafür zu sehen. Das sind wohl kaum Leute, die einer alten Frau Stricknadeln in den Schädel rammen, denkt Bjarne, schreibt aber trotzdem den Namen der Zentrale in Großbuchstaben auf und malt einen Pfeil daneben, der zur Seite zeigt. »Okay«, sagt er dann und erhebt sich. »Sie wollen jetzt sicher nach Hause und nach Ihrem Sohn sehen. Aber lassen Sie sich trotzdem noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen, was Sie heute Abend gehört und gesehen haben, besonders die Dinge, die Ihnen irgendwie merkwürdig oder ungewöhnlich vorkommen. Alles, was von Interesse sein könnte.«
»Mach ich«, sagt Sund und nimmt die Visitenkarte, die Bjarne ihm reicht. Dann geht er zum Aufzug, während seine Finger über die Tasten des Handys huschen.
6
Früher ist Henning abends am Akerselva joggen gegangen, auch wenn er dabei manchmal auf Leute stieß, denen man nach Einbruch der Dunkelheit lieber nicht begegnen mochte. Er lief in der Regel einfach an ihnen vorbei, angenehm war es trotzdem nie.
Die gleiche Unruhe ergreift ihn, als er am Riverside , dem Café am unteren Ende des Markveien, vorbeigeht, um auf die Rückseite des Grünerhjemmet zu kommen. Eigentlich könnte dieser Bereich der Stadt die reinste Postkartenidylle sein. Alte Gebäude, die dicht an dicht am Flussufer stehen, gesäumt von stattlichen Bäumen. An warmen Tagen kann man sich vor das Riverside setzen oder auf die Wiesen, die zum Wasser hin abfallen, und das Leben an dem still dahinfließenden Fluss genießen. Aber die Gegend um den unteren Teil des Akerselva ist zum Mekka für Menschen geworden, die ihr Geld damit verdienen, Betäubungsmittel an all jene zu verkaufen, die sie zu benötigen glauben. Früher operierten sie versteckt, weil es eine Schande war, Drogen zu verkaufen oder zu konsumieren, doch inzwischen geschieht das alles am helllichten Tag, ohne dass irgendjemand sich darum schert. Die Polizei weiß davon, hat aber nicht die Ressourcen, um etwas dagegen zu unternehmen. Und wird ein Dealer geschnappt, taucht gleich am nächsten Tag ein neuer auf.
Henning folgt dem Weg, der um das rote Backsteingebäude herumführt, bis zu einem Parkplatz. Dort geht er langsam auf und ab, während er darauf wartet, dass jemand herauskommt.
In der ersten Viertelstunde geschieht gar nichts.
Er sieht auf die Uhr. Aus neun ist inzwischen halb zehn geworden. In seinem früheren Leben hätte er jetzt vielleicht ein, zwei
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