Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
augenscheinlich glückliche vierköpfige Familie.
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung«, antwortet sie. »Ich tippe mal auf den Sohn oder die Tochter des Opfers mit Familie. Mich würde aber viel mehr interessieren, wieso das Bild auf dem Boden liegt und warum der Haken da oben so verbogen ist.«
Bjarne hebt den Blick.
»Der Boden hier ist ziemlich sauber. Man kann sich fast darin spiegeln.«
»Dann wurde das Foto heruntergerissen«, schlussfolgert Bjarne. »Vielleicht sogar heute Abend.«
Ann-Mari Sara nickt. »Die Frage, über die ich mir an deiner Stelle Gedanken machen würde, ist: Warum?«
4
Man braucht nicht mehr als zehn Minuten vom Dælenenga-Stadion zum Grünerhjemmet, dem Pflegeheim am unteren Ende des Markveien, einem roten Backsteingebäude, das sich ganz und gar unauffällig in die übrige Bebauung von Grünerløkka einfügt. Die wenigsten Passanten verschwenden einen Gedanken daran, dass hier der größte Teil der dringend pflegebedürftigen Menschen des Stadtteils untergebracht ist.
Vor dem Eingang hat sich eine Gruppe Menschen versammelt, eine ganz eigene Unterart der Spezies homo sapiens, die Henning immer und überall wiedererkennen würde. Einen Augenblick oder zwei später sieht er sie inmitten der Journalistenhorde: Nora. Die Frau, die er einmal mit jeder Faser seines Körpers geliebt hat. Nur nicht so, wie sie es verdient hätte, geliebt zu werden. Die Frau, die an jenem Tag, als es bei ihm zu Hause brannte, krank war und die sich niemals verzeihen wird, dass sie Jonas ausgerechnet an diesem Abend zu Henning geschickt hat, obwohl es gar nicht Hennings Abend war. Die Frau, die wenig später die Scheidung einreichte, als er sie am dringendsten gebraucht hätte.
Zu sagen, dass es schwierig wäre, Nora zu begegnen, nachdem er wieder begonnen hat zu arbeiten, wäre eine grobe Untertreibung. Ihre gemeinsame Vergangenheit als Eltern und Journalisten konkurrierender Medien ist eine Sache. Eine ganz andere ist, dass Nora inzwischen mit Hennings engstem Mitarbeiter bei 123nyheter liiert ist. Mit Iver Gundersen.
Nora hebt eine Hand und kommt langsam auf ihn zu. Einen Meter vor ihm bleibt sie stehen und sagt Hallo. Henning nickt und lächelt, spürt, wie sich augenblicklich um sie herum ein Schutzwall erhebt und Wind, Luft, das Gebäude – und die Welt um sie herum – aufhören zu existieren.
»Wie geht’s?«, fragt sie.
Henning neigt den Kopf, erst auf die eine, dann auf die andere Seite. »Gar nicht so schlecht«, sagt er.
Henning hat Nora seit dem Abschluss des Tore-Pulli-Falls nicht mehr gesehen, aber vor ein paar Tagen hat er, nachdem ein Artikel, den er über Tore Pullis Tod geschrieben hatte, erschienen war, eine E-Mail von ihr bekommen. Nicht viele Worte, nur zwei Sätze, die ihn aber nachdenklich gemacht haben.
Verdammt guter Artikel, Henning. Du bist nach wie vor der Beste.
Gruß, Nora
Er hätte antworten und sich bedanken sollen, aber das hat er nicht hinbekommen. Er hätte sich zumindest für ihren Einsatz bedanken sollen, als er vor etwas über einer Woche bewusstlos in einem Grab gelegen hatte und auf dem besten Weg in die ewigen Jagdgründe war. Nora hatte begriffen, dass irgendetwas nicht stimmte, sowie sie versuchte, ihn zu Hause zu erreichen, und keine Antwort bekam. Sie kontaktierte Bjarne Brogeland, der wiederum die ganze Maschinerie in Gang setzte, sodass Henning am Schluss gefunden und gerettet wurde.
Aber er hat es nicht einmal geschafft, sich dafür zu bedanken. Und dass ihre Stimme gerade milder als gewohnt klingt, macht es auch nicht leichter.
»Immer noch ein bisschen Kopfschmerzen, aber alles im Rahmen«, sagt er schließlich. »Wie geht es Iver?«
Nora kopiert Hennings Schulterzucken. »Ich soll dich grüßen«, sagt sie nur.
»Ist er wieder zu Hause?«
»H-hm.« Sie nickt. »Und langweilt sich auf dem Sofa fast zu Tode.«
Noras Haut, glatt wie immer. Das Haar dunkel und schulterlang. Eine dunkelblaue Jacke, die er von früher kennt. Henning erinnert sich sogar noch, wo er sie zuletzt damit gesehen hat. Es war zwischen Gjendesheim und Memurubu, als sie über den Besseggen-Grat wanderten, an einem Tag, der als Sommer begann und im Vollblutwinter endete.
»Was ist passiert?«, fragt er.
Nora dreht sich zu dem roten Backsteingebäude um und zieht wieder die Schultern hoch. »Wir haben noch nicht viel erfahren, außer dass das Opfer eine alte Frau ist.«
Ein paar Meter entfernt bricht ein Journalist in Lachen aus. Henning schickt ihm einen langen Blick.
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