Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
sucht nach der Fortsetzung. »Wir tappen im Dunkeln, wenn ich ehrlich sein soll, und darum dachte ich, ob du vielleicht … dass du möglicherweise …« Bjarne sieht sich um. »Du bist ja für dein scharfes Auge für Details bekannt.«
Henning betrachtet den Polizisten mit stiller Neugier. Sein Blick flackert wie der eines Teenagers beim ersten Date.
»Und der Ermittlungsleiter hat dir für dieses Gespräch grünes Licht gegeben?«, fragt er spitzbübisch.
Bjarne schüttelt den Kopf.
»Hätte mich auch gewundert«, sagt Henning und grinst. »Aber … Was geht hier eigentlich vor? Normalerweise bin ich es, der um eine Audienz betteln muss. Und jetzt ist es umgekehrt? Sag nicht, dass ihr jetzt schon vor die Wand gefahren seid? Es ist doch noch nicht mal vierundzwanzig Stunden her, dass der Kerl sich das Leben genommen hat?«
Bjarne sieht verkrampft aus. »Frische Perspektiven sind immer gut«, sagt er.
Henning trinkt einen Schluck Kaffee und mustert seinen früheren Schulfreund. Sein dunkles Haar wirkt über den Schläfen ein bisschen grauer. Seine Haut ist glatt wie immer, aber nicht so braun wie sonst um diese Jahreszeit.
»Du kannst natürlich nichts von alldem schreiben, was ich dir jetzt erzähle«, fährt Bjarne fort.
»Ich soll dir also helfen, aber du mir nicht?«
Bjarnes Stirn legt sich in tiefe Furchen. »Vielleicht können wir uns ja auf ein paar Andeutungen einigen. Etliches davon ist ja ohnehin schon bekannt.«
Henning sieht ihn wortlos an. »In Ordnung«, sagt er schließlich und breitet die Arme aus. »Lass hören. Was stört dich?«
Bjarne seufzt, sieht sich noch einmal um und beugt sich näher zu Henning rüber, als er von Gjerløws Beziehung zu den beiden Mordopfern erzählt. Er berichtet von den Tatorten, den zerstörten Bildern, von den Fotos der Opfer auf Gjerløws Computer, von seinem Besuch im Grünerhjemmet und von dem an Tom Sverre Pedersen adressierten Umschlag. Von der Entschuldigung auf Facebook.
»Niemand versteht, wieso Gjerløw die Taten begangen hat«, schließt Bjarne seinen Bericht ab. »Wir haben nichts gefunden, rein gar nichts, was den Täter in seiner aktuellen Situation mit den Opfern in Verbindung bringt – außer dass er mit Johanne Klingenberg auf Facebook befreundet war und das Pflegeheim besucht hat, in dem Erna Pedersen lebte. Ich finde einfach kein Motiv.«
Henning rückt etwas näher an den Tisch heran. Dass die beiden Morde offensichtlich vom selben Täter begangen wurden, kommt überraschend für ihn. Das wiederum macht ihn auf eine Weise neugierig, wie er es schon lange nicht mehr gewesen ist.
»Und dann wären da noch ein paar Merkwürdigkeiten. Sein Laptop ist völlig clean. Also: der, auf dem die Fotos liegen. Kein Fingerabdruck, nicht ein Staubkorn. Daneben hat er noch einen neueren Rechner, aber der ist ordentlich verdreckt. Außerdem hat er kurz vor seinem Tod eine SMS an einen Freund geschickt, in der er schreibt, dass er gerade ein Spiel spielt. Ätzende Grafik, aber geiler Sound .« Bjarne sieht Henning ein paar Sekunden an, dann senkt er den Blick. »Ich komme da einfach nicht weiter.«
»Was hat er beruflich gemacht?«
»Er war arbeitslos.«
»In welchem Bereich hat er vorher gearbeitet?«
»Er hatte Gelegenheitsjobs. Unter anderem in Kindergärten, meist hier in Oslo. Umzüge. Er hat einen Lkw-Führerschein. Ein paar Monate lang hat er Bierkisten für Ringnes ausgefahren.«
Henning legt die Hand ans Kinn.
»Und das mit dem kleinen Jungen jagt mir einen Schauer über den Rücken«, fährt Bjarne fort.
Henning versucht, sich den Täter vorzustellen. In Erna Pedersens Zimmer hat er das Bild der Familie ihres Sohnes zerschlagen. In Johanne Klingenbergs Wohnung hat er das Foto ihres Patensohnes von der Wand gerissen.
Und dann denkt er an seine Gefühle am gestrigen Abend, als er das Foto von Jonas betrachtet hat. Das schlechte Gewissen, das ihm fast die Luft abgeschnürt hat, weil er niemals Jonas’ Blick ertragen wird. Möglicherweise ist das der Grund, weshalb Gjerløw ein Foto seiner Klasse bei Erna Pedersen aufgehängt hat. Vielleicht wollte er ihr ein schlechtes Gewissen machen.
Henning teilt Bjarne seine Gedanken mit.
»Möglich«, sagt Bjarne. »Aber wieso hat er die anderen Bilder zerstört?«
»Vielleicht war er gar nicht auf die Leute wütend, die auf den Fotos abgebildet sind. Und der kleine Junge kann ihm nichts getan haben, das versteht sich von selbst.« Henning denkt einen Augenblick nach. »Wenn es stimmt, dass Gjerløw
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