Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Dann dreht sie sich zu ihm um und sieht ihn an. Richtig.
Sie kommt auf ihn zu und bleibt erst stehen, als sie ganz dicht vor ihm ist. Er legt seine Arme um sie, und sie klammert sich an ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Henning weiß nicht, wie lange er Nora so nicht mehr gehalten hat. Vorsichtig legt er eine Hand in ihren Nacken und streicht ihr über die Haare. Schließt die Augen. Diese weichen, wunderbaren Haare. Genau wie früher. Ihr Duft. So vertraut.
Als sie sich von ihm wegschieben will, verweigern ihr die Füße den Dienst. Sie bleibt dicht vor ihm stehen. Nur wenige Zentimeter trennen sie. Er spürt noch immer ihren Atem auf seinem Gesicht. Henning weiß nicht, ob er es ist, der Nora an sich zieht, oder ob sie unmerklich näher an ihn heranrückt, aber er erkennt das Zittern wieder, die magnetische Kraft, die ihn nie losgelassen hat. Er spürt mit ganzer Seele, dass er nie jemanden so geliebt hat wie Nora.
Deshalb zieht er sich zurück.
Er sieht in ihren Augen, dass auch sie das Gefühl hat, etwas falsch gemacht zu haben.
Sie stehen da und sehen sich an. Lange, sehr lange.
Dann dreht sie sich um und geht.
DONNERSTAG
67
Trine kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gut und traumlos geschlafen hat. Nachdem sie bis spät in die Nacht geredet haben, ist sie dicht an Pål Fredrik geschmiegt eingeschlafen und nicht ein einziges Mal aufgewacht, ehe am Morgen ihr Handy auf dem Nachtschränkchen geschnurrt hat. Sie hat schon viele Menschen sagen hören, wie gut es tut, sein Herz zu erleichtern, Dinge in Worte zu fassen, die einen inwendig auffressen. Aber sie hätte nicht gedacht, dass das in diesem Maße so auch auf sie zutreffen könnte.
Aber obgleich es wirklich gutgetan hat, Pål Fredrik von ihrem Vater und dem, was sie in jener Nacht gesehen hat, zu erzählen, war sie nicht in der Lage, wirklich alles von sich preiszugeben. Nicht einmal ansatzweise. Und sie weiß auch nicht, ob sie dazu je in der Lage sein wird.
Sie kann sich noch nicht recht entschließen, zur Arbeit zu gehen, steht aber mit Pål Fredrik zusammen auf. Sie frühstücken, lesen die Zeitung, unterhalten sich über die Nachrichten, die nicht von ihr handeln. Sie hätte Lust zu trainieren, vor allem davonzulaufen, aber dann bleibt sie doch sitzen und denkt darüber nach, wie die Medien sich wie Hyänen in all den Dingen gesuhlt haben, die in den letzten Tagen über sie ausgegraben worden sind. Sie hat nicht einmal die Hälfte all dessen mitbekommen, und trotzdem haben sich die fettesten Schlagzeilen bei ihr eingeätzt. Als Abgeordnete und erst recht als Ministerin hat sie in Kauf genommen, dass jede ihrer Bewegungen mit Argusaugen verfolgt wird und ständig irgendwelche Linsen auf sie gerichtet sind. Und den Menschen, der es schafft, unbescholten und fehlerfrei durchs Leben zu gehen, würde sie gerne kennenlernen.
Aber das hier hat sie nicht verdient.
Das hat sie verdammt noch mal nicht verdient.
Darüber hinaus hat Trine bis jetzt jeden tiefer gehenden Gedanken um die Ereignisse der letzten Tage abgeblockt. Bei dem Rekonstruktionsversuch, wer von ihrem Ausflug nach Kopenhagen gewusst haben könnte, ist ihr spontan eine Freundin eingefallen, die möglicherweise irgendwem davon erzählt und so die Gerüchteküche angeheizt haben könnte. Aber die plausibelste Erklärung kommt ihr erst in diesem Moment. Es gibt nur einen Menschen, der in alles eingeweiht war, der ihr bei allem geholfen hat, der sie diskret aus dem Hotel Caledonien geschleust, einen Wagen und das Flugticket organisiert hat, der sich um das Hotel gekümmert und ihr Kleider besorgt hat, die es ihr erlaubten, unerkannt zu verreisen. Der den Termin für sie vereinbart hat, um ihr kleines Problem zu lösen. Die Person, mit der sie in den vergangenen drei Jahren als Justizministerin am engsten zusammengearbeitet und der sie alles anvertraut hat.
Trine nimmt ihr Handy, das neben der Kaffeetasse liegt, ruft eine Nummer aus der Anruferliste auf und wählt sie.
»Hallo, Trine. Wie geht es dir?«
»Guten Morgen. Ich würde gerne für heute Nachmittag eine Pressekonferenz ansetzen. Könntest du dich um das Praktische kümmern?«
Es ist eine Sekunde lang still am anderen Ende. »Ja, selbstverständlich, aber …«
»Gut. Setz sie für zwei Uhr an, dann kann ich mich noch ein bisschen vorbereiten. Und vorher würde ich gern noch mit dir sprechen. Sagen wir, um zwölf in meinem Büro?«
Erneute Stille.
»Äh, okay?«
»Wunderbar. Dann sehen wir uns um
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