Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
einen Blick hinein. Coladosen. Ein Karton Milch, die ganz sicher abgelaufen ist. Drei Flaschen Tuborg. Eine Flasche Weißwein, die er bei einer Freitagslotterie gewonnen hat, ohne sich erinnern zu können, jemals daran teilgenommen zu haben.
»Ich nehme gern ein Glas Wein, wenn du auch eins trinkst«, sagt sie.
Henning kann sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt Wein getrunken hat. Aber er nimmt die Flasche heraus, holt einen Korkenzieher und öffnet die Flasche.
»Kein Chablis, aber …« Henning lächelt entschuldigend und denkt an Noras Lieblingswein, von dem sie freitagabends, wenn die Tacos aufgegessen waren und Jonas schlief, gerne ein, zwei Flaschen getrunken haben.
»Ist bestimmt trotzdem gut«, sagt sie.
Henning holt zwei Gläser aus dem Schrank, gießt ein und deutet in Richtung Wohnzimmer, wo sie jeder auf einem Sessel Platz nehmen. Sie stellen ihre Gläser fast gleichzeitig auf dem Tisch ab. Dann wird es wieder still. Henning sieht sie an und wartet.
»Und«, sagt sie, »wie geht es dir?«
Noch ehe Henning antworten kann, sagt sie: »Jetzt sag bitte nicht: Geht so. Sei ehrlich und sag mir, wie es wirklich in dir drin aussieht, Henning.«
Henning hätte am liebsten gefragt, wieso sie das interessiert, kann sich aber zurückhalten. »Na ja, was soll ich sagen … Ich komme zurecht. Zurzeit ist verdammt viel los. Die Sache mit Trine und … und …«
»Tore Pulli?«
Henning hebt den Blick. »Ja«, sagt er dann. »Das heißt, im Moment läuft da nicht gerade viel, aber …«
Henning ist kurz davor, ihr alles zu erzählen. Die Sache mit Indicia, mit dem toten Hund. Im letzten Moment verbietet er sich dann aber doch den Mund. Es wäre zu früh.
»Verstehe«, sagt sie nur und trinkt einen Schluck Wein, schmatzt leise und stößt einen zufriedenen, tonlosen Laut aus.
Henning rührt sein Glas lange nicht an. Er ist froh um die Hintergrundmusik, aber auch noch mit Hans Zimmers Streichern als Begleitung fühlt es sich beklemmend und seltsam an, Nora so dicht gegenüberzusitzen. Sie nimmt noch einen Schluck, lehnt sich auf dem Sessel zurück und schlägt die Beine übereinander. Dann entscheidet sie sich anders und beugt sich wieder vor.
»Sorry«, sagt Henning. »Ich weiß, der Sessel ist unbequem.«
»Ach was«, sagt Nora und lächelt verlegen.
Wieder drängt sich die Stille zwischen sie. Henning mustert sie.
»Willst du mit mir über etwas … Spezielles reden, Nora?«
Sie sieht abrupt zu ihm auf, als hätte er sie auf frischer Tat ertappt. »Nein, ich wollte nur …« Sie schlägt den Blick nieder.
Henning wartet, sie trinkt noch einen Schluck Wein.
»Vor einer Woche«, beginnt sie dann, »als du in dem Grab gelegen hast, da …« Sie sieht auf, als könne sie an dem künstlichen Stuck unter der Decke Halt finden. »Ich dachte, du wärst tot«, flüstert sie, ohne seinem Blick zu begegnen. »Ich dachte … dass wir auch dich beerdigen müssten.«
»Und …«
Sie seufzt und schüttelt den Kopf. »Warum wohnst du hier, Henning?«
Die Frage überrumpelt ihn.
»Warum wohnst du ausgerechnet hier ?« Nora breitet die Arme aus, sieht in den Raum. »Ich meine, du guckst vom Schlafzimmer auf … Du guckst direkt auf …« Sie bringt den Satz nicht zu Ende. »Du hast sogar einen Balkon, der unserem wie ein Ei dem anderen gleicht.« Nora redet nicht weiter, sie sieht ihn nur an.
Jetzt ist es an Henning, auf den Boden zu starren. »Ich …«
»Hasst du dich wirklich so sehr?«, fragt sie. »Machst du das, um dich zu bestrafen? Ist das eine Form von Buße, weil …«
Henning hebt abwehrend eine Hand. »Sag es nicht. Nenn bitte nicht seinen Namen.«
In Noras Augen schimmert es feucht. Und auch er selbst spürt Tränen aufsteigen.
»Nenn seinen Namen nicht«, wiederholt er leise, und seine Stimme versagt.
Der Augenblick zieht sich in die Länge, auch das Lied verstummt, und ein paar Sekunden lang ist es in der Wohnung vollkommen still.
Henning hört seinen eigenen, schweren Atem. Er sieht das Pochen in ihrer Halsschlagader, die Kette auf dem dünnen weißen Pullover. Er kann sich nicht daran erinnern, diese Kette zuvor schon einmal gesehen zu haben.
Dann beginnt ein neues Stück, und beide scheinen wie aus einem schlechten Traum aufzuwachen. Nora sagt nichts mehr, sie trinkt stattdessen den Wein mit einer Begierde, die Henning noch nie an ihr gesehen hat.
»Ich muss gehen«, sagt sie dann und steht auf.
Henning begleitet sie in die Küche und in den Flur, wo sie sich die Jacke überwirft.
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