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Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Titel: Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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ein ganz besonderes Verhältnis zu Fotos hat, haben sie vielleicht irgendetwas Bestimmtes für ihn repräsentiert.«
    »Zum Beispiel?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht war er einsam. Meintest du nicht, er hätte es an der Familienfront nicht weit gebracht?«
    »Ja.«
    »Vielleicht war er neidisch. Warum sonst provoziert ihn das Bild einer glücklichen Familie, die er gar nicht kennt?«
    »Zumindest gehen wir davon aus, dass er sie nicht kannte. Aber er hat auch das Bild des kleinen Jungen zerschlagen. Wieso sollte er auf den Kleinen neidisch gewesen sein?«
    Henning antwortet nicht, spürt aber, dass irgendwo in seinem Kopf, fast in Reichweite, ein Gedanke Form annimmt. »Vielleicht hat er etwas Ähnliches für ihn repräsentiert wie eine glückliche Familie«, sagt er.
    »Wie meinst du das?«
    »Gjerløw selbst hatte keine Kinder. Vielleicht hat er sich welche gewünscht.«
    »Dann ist nicht der Junge an sich das Problem«, sagt Bjarne, »sondern das, wofür er steht.«
    Henning breitet die Arme aus. »Warum nicht?«
    Bjarne sitzt eine Weile in nachdenkliche Stille versunken da, bis sein Handy klingelt. Er hebt es ans Ohr.
    Henning betrachtet den Gesichtsausdruck seines Freundes. Seine Pupillen weiten sich. Sein Mund geht auf.
    »In Ordnung«, sagt er schließlich. »Ich bin sofort da.« Er beendet das Gespräch.
    »Was ist passiert?«
    »Es war nicht sein Blut.«
    »Was für Blut?«
    »Johanne Klingenberg hat vor zwei Wochen, nachdem bei ihr eingebrochen wurde, eine Blutspur in ihrer Wohnung gefunden. Es war nicht Markus Gjerløws Blut. Er hat eine andere Blutgruppe.«
    69
    Es ist wichtig, der Trauer einen speziellen Platz im Herzen einzuräumen und zugleich die anderen Räume wieder nutzen zu können. Die Alltagsräume, sozusagen. Es ist wichtig, sich wieder in den Griff zu kriegen.
    Emilie Blomvik hat die Nacht im eiskalten Gästezimmer im Keller verbracht. Sie hat sogar ein paar Stunden geschlafen. Aber als sie nun von den Schritten wach wird, die im Stockwerk über ihr über das Parkett trippeln, schnell, schnell, schnell, als gäbe es kein langsameres Tempo, fasst sie einen Entschluss. Genug ist genug. Ja, du kannst traurig sein, aber die Trauer darf dich nicht auffressen.
    Sie geht hinauf ins Erdgeschoss und sagt Mattis, dass er zur Arbeit fahren kann. Obwohl er gerade erst zum Partner ernannt worden ist, war er so lieb, sich einen Tag krankzumelden, um sich um Sebastian und sie zu kümmern.
    Sie spürt, wie gut es ihr tun wird, wieder normale Dinge zu tun. Butterbrote zu schmieren. Klamotten rauszusuchen. Sebastian, der arme Kleine, weiß ja überhaupt nicht, was passiert ist, er kennt den Tod noch nicht. Aber er kennt seine Eltern. Und wenn einer von ihnen sich nicht normal benimmt, spürt er das sofort.
    Emilie findet ihn in seinem Zimmer, wo er mit Lightning McQueen spielt. Sie lächelt. Er hebt kaum den Kopf, als sie Hallo sagt. Wroooom! Crash! Bumm! In letzter Zeit ist ihr aufgefallen, dass er immer häufiger die Tür zumacht. Dass er allein sein will. Auf und zu. Sie hätte nicht gedacht, dass er das mit seinen knapp zweieinhalb Jahren schon alleine schafft.
    »Ich fahr dann mal«, ruft Mattis aus dem Flur.
    »Papa geht jetzt«, sagt sie zu Sebastian. »Wollen wir ihm noch Tschüss sagen?«
    Sebastian lässt das Auto fallen. Emilie will ihn ermahnen, dass man sein Spielzeug pfleglicher behandeln muss, schluckt es aber hinunter. Dies ist kein Tag für Erziehungsmaßnahmen. Heute geht sie den Weg des geringsten Widerstandes, es geht einzig und allein darum, allmählich wieder auf die Beine zu kommen.
    Sie verabschieden sich von Mattis, und als die Tür ins Schloss fällt, fragt sie Sebastian, ob er schon etwas gegessen hat. Er schüttelt heftig den Kopf.
    »Okay«, sagt sie. »Dann frühstücken wir beide jetzt erst einmal. Was willst du essen?«
    »Koan Fläcks.«
    »Also gut, Cornflakes.«
    Auf dem Weg zur Küche bleibt sie stehen. Was ist das denn? Neben dem ausgestopften Rentierkopf hängt ein Bild. Zwei Fußabdrücke im Sand, der eine halb über dem anderen, auf rosa Fotopapier. Wann hat Mattis das aufgehängt? Und seit wann macht er sich Gedanken über Dekoration? Und was haben die zwei Fußabdrücke im Sand zu bedeuten? Ist das eine subtile Form eines Heiratsantrags oder was?
    Das Motiv kommt ihr bekannt vor, irgendwo hat sie es schon mal gesehen.
    Vor langer, langer Zeit.
    Ein kalter Schauer setzt im Nacken an und rieselt ihr über den Rücken. Sie will gerade ihr Handy holen, um Mattis anzurufen,

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