Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
zwölf.«
68
Henning schaut auf die Uhr. Er ist früh dran.
Egal. Er sitzt gerne im Olymp , so nah an der Straße wie möglich. Früher hat er sich nach einem kurzen Blick in ihre Gesichter, in ihre Augen und auf ihre Kleidung Geschichten zu den Passanten ausgedacht. Als eine Art Training in Sachen Menschenkenntnis, was ihm natürlich auch im Job von Nutzen war. Aber vor allem anderen hatte er so eine Beschäftigung, wenn es ihm langweilig wurde, wenn er – wie jetzt gerade – auf jemanden wartete. Ihm geht auf, dass es eine ganze Menge Dinge gibt, die er lange gemieden hat, schlicht und ergreifend, weil er Angst davor hatte. Wein, Freunde, Musik. Selbst vom Meer hat er sich ganz bewusst ferngehalten. Ein Hobbypsychologe würde ihm wahrscheinlich diagnostizieren, dass er Angst hat, Gefühle zuzulassen. Henning weiß es nicht sicher, er spürt aber, dass im Moment eine Reihe von Dingen mit ihm passieren, die er nicht recht einordnen kann.
Sein Handy klingelt. Apropos Freunde, denkt er und sieht auf dem Display, dass der Anruf von Iver kommt. Prompt meldet sich das schlechte Gewissen wegen dem, was gestern Abend um ein Haar mit Nora passiert wäre. Ruft Iver etwa deswegen an? Hat sie ihm davon erzählt?
Zögernd drückt er den Hörer ans Ohr. »Hallo?« Seine Stimme ist kraftloser als geplant.
»Hey, Mann«, sagt Iver auf seine übliche forsche Art.
Die Luft entweicht langsam aus Hennings Lunge.
»Wie geht’s?«, redet sein Kollege weiter. »Schwer beschäftigt?«
»Geht so«, antwortet Henning. »Ich warte auf einen Informanten, aber er ist noch nicht gekommen.«
»Ein Er also«, sagt Iver und lacht verschwörerisch.
»Und du weißt natürlich auch, wer es ist.«
»Wenn du mir sagst, wo du bist, dann bestimmt.«
»Was ich natürlich nicht tun werde.«
Iver lacht wieder, und Henning merkt, dass er selber lächelt. »Wie geht es dir?«, fragt er. »Bist du bald wieder zurück?«
»Ich hoffe es. In ein paar Tagen muss ich noch mal zur Nachsorge ins Krankenhaus, dann weiß ich mehr. Ich werde vom Nichtstun noch ganz kirre.«
Henning erinnert sich noch genau daran, wie es ihm selbst in den Wochen und Monaten ergangen ist, bevor er beschlossen hat, wieder zu arbeiten. Die meiste Zeit hat er zu Hause herumgehockt, an die Wand gestarrt oder in den Fernseher geglotzt. Die Welt stand still. Irgendwann hat er dann angefangen, jeden Tag eine Runde spazieren zu gehen. Abends setzte er sich ins Dælenenga. So gewöhnte er sich nach und nach wieder daran, unter Leuten zu sein. Aber gesprochen hat er so gut wie nie mit jemandem.
»Tut mir leid, dass ich dich in der letzten Woche nicht mehr besucht habe«, sagt Henning.
»Ach«, schnauft Iver. »Scheiß drauf.«
»Nach der Pulli-Sache war so viel aufzuholen. Ich hatte nicht einen einzigen …«
»Scheiß drauf, sag ich. Sagst du das nicht immer?«
»Was?«
»Dass ich drauf scheißen soll?«
»Doch, ja … Kann schon sein.«
»Also, scheiß drauf.«
Iver lacht. Henning lächelt und schaut über die Straße auf den gegenüberliegenden Bürgersteig, wo eine Frau mit drei Tragetaschen langsam vor sich hin schlurft.
»Also, was geht?«, fragt Iver noch einmal. »Irgendwas Spannendes am Wickel?«
»Könnte man sagen.«
»Geht’s ein bisschen genauer? Und bitte darüber hinaus, was ich selbst in der Zeitung lesen kann.«
Henning würde gerne einige seiner Gedanken mit Iver teilen, aber er zögert trotzdem kurz, ehe er antwortet. Vielleicht ist es wegen Nora. Oder weil er in alte Gewohnheiten zurückverfällt, sobald er merkt, dass ihm jemand zu nahe kommt.
Da sieht er auf der anderen Straßenseite Bjarne Brogeland in zügigem Tempo auf ihn zukommen.
»Mein Informant ist da«, sagt Henning. »Ich muss Schluss machen.«
»Aber …«
»Ich ruf dich später an, Iver.«
»Versprochen?«
Henning antwortet nicht unmittelbar. Dann sagt er: »Versprochen.«
Das Olymp ist mit der Zeit Hennings und Bjarnes fester Stammtreffpunkt geworden, wenn sie Geschäftliches zu besprechen haben. Normalerweise ist es Henning, der anfragt, aber diesmal war es Bjarne, der das Treffen initiiert hat. Henning hatte nichts dagegen, im Gegenteil.
Er steht auf und begrüßt Bjarne mit einem festen Händedruck. Sie setzen sich ein Stück weiter nach hinten und bestellen Kaffee.
»Du siehst erschöpft aus«, sagt Henning.
»Danke, sehr charmant.« Bjarne wischt sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich habe gestern Nacht nicht viel Schlaf abbekommen. Irgendwas an diesem Fall …« Er
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