Verleumdung
Nicht allein wegen der Hitze, sondern auch um die Standpauke zu verdauen, die sie sich hatte anhören müssen.
Sie ging Richtung Wasser. Als sie den Frederiksholms Kanal erreicht hatte, kam der Sorte Diamant, ein Teilgebäude der Königlichen Bibliothek, in Sicht. Selbst am späten Nachmittag wimmelte es im Café der Bibliothek noch immer vor Touristen und Studenten. Und plötzlich verlor sie die Lust, am Wasser entlang weiterzugehen, obwohl sie schon oft dort an der Hafenfront gesessen und den Abend genossen hatte. Eine Sekunde lang dachte sie geradezu paranoid, dass man sie wiedererkennen würde, wenn sie sich an einem solchen Ort zeigte, und schob sich ihre neue Chanel-Sonnenbrille auf die Nase. Aber das war natürlich Unsinn. Niemand würde sie wiedererkennen, und selbst wenn, wäre es den Leuten vermutlich egal. Sie setzte ihren Weg fort und bog dann links in den Bibliotheksgarten ab, wo sie hoffentlich allein sein würde.
Morgen würde wahrscheinlich wieder jemand anderes die Titelseiten der Zeitungen zieren, und in diesem Augenblick hatte sie vor allem das Bedürfnis, in Ruhe nachzudenken.
»Ist das nicht Hans Christian Andersen? Den hätte ich mir aber größer vorgestellt.«
Linnea hatte gerade ihren Blackberry aus der Tasche geholt und wollte ihn einschalten, legte ihn dann aber wieder weg, als sich ein paar lärmende Touristen auf dem Kopfsteinpflaster näherten. Es waren Amerikaner, dem Dialekt nach aus dem Mittleren Westen. Garantiert hatten sie mit einem der Kreuzfahrtschiffe angelegt und nun gerade mal vierundzwanzig Stunden oder noch weniger Zeit in Kopenhagen zur Verfügung. Zum Glück kamen sie nicht auf die Idee, sich ebenfalls in den Bibliotheksgarten zu setzen. Nachdem sie die obligatorischen Fotos von der Statue geknipst hatten, gingen sie weiter, und Linnea hatte die kleine Oase hinter der Bibliothek wieder ganz für sich allein.
Wäre die ganze Situation nicht so ärgerlich für sie gewesen, hätte sie eigentlich darüber lachen können. Mittlerweile war ihr klargeworden, dass sich Nikolajsen am meisten über die Behauptung ärgerte, man hätte sie vom FBI abgeworben. Das hatte ihn offenbar stark in seiner Eitelkeit gekränkt, während sie selbst es eher amüsant fand. Es stimmte, dass sie einmal auf einem Seminar vom FBI einen Vortrag gehalten hatte. Vermutlich hatte dies den Journalisten zu einer Weiterdichtung inspiriert, nachdem er ihr Skript im Internet gefunden hatte. Aber die Behauptung mit dem Headhunting konnte gar nicht wirklichkeitsferner sein. Eigentlich war es ja auch kein großes Geheimnis, dass sie vor anderthalb Jahren nach Dänemark gekommen war. Das Rätsel lag viel mehr darin, warum sie das Land nicht längst wieder verlassen hatte.
Wurde sie nach ihrer Nationalität gefragt, dann antwortete sie immer »Dänisch«, obwohl ihr weder Frage noch Antwort sinnvoll erschienen. Sie war in Nairobi geboren worden, als ihr Vater politischer Ratgeber für irgendein Auslandsprojekt gewesen war. Ihre frühesten Kindheitserinnerungen waren alle mit Afrika verknüpft. Ihre ersten Schuljahre verbrachte sie auf einer internationalen Schule in Bangkok, nachdem ihr Vater dort eine Stellung bekommen hatte. Anschließend war die Familie dem Vater und seiner rasanten Karriere quer durch Asien hinterhergereist. Nie mehr als ein paar Jahre an einem Ort, bevor der Vater einen neuen Posten antrat. Sie selbst war größtenteils ihren verschiedenen Nannies und Ayahs überlassen worden. Womit sich ihre Mutter eigentlich die Zeit vertrieben hatte, war ihr nie richtig klargeworden.
Als Linnea in die siebte Klasse kam, waren ihre Eltern der Meinung, es wäre eine gute Idee, sie in eine dänische Schule zu schicken. Also nahm der Vater eine Stelle beim dänischen Außenministerium an. Wenn sie genauer darüber nachdachte, war die Reihenfolge wahrscheinlich in Wirklichkeit umgekehrt. In jedem Fall war die Zeit in Dänemark schnell vorbei gewesen. Weder ihre Mutter noch der Vater hatten sich dort zurechtgefunden. Dem Vater wurde schnell bewusst, dass seine neue Anstellung eine karrieremäßige Sackgasse war. Die Mutter konnte sich nicht recht mit den bescheideneren Lebensverhältnissen im neuen Land abfinden, in dem sie weder einen Koch noch einen Chauffeur oder ein Dienstmädchen hatten. Bereits ein halbes Jahr später war der Vater wieder in Seoul, und Linnea und ihre Mutter folgten ihm, sobald das Schuljahr zu Ende war. Eigentlich war Linnea froh darüber, denn auch sie gewöhnte sich in dieser Zeit
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