Verleumdung
dem Polizeibeamten hinüber, der nickte, als wolle er bestätigen, dass sie diese Angabe schon überprüft hatten.
»Und Sie haben nichts gesehen, als Sie hierherkamen?«
»Ich sah diesen Toten, verdammt, ist das etwa nicht genug? Ich war nur auf dem Heimweg.«
»Und Sie sind sich sicher, dass er bereits tot war, als Sie kamen?«
»Wie meinen Sie das?«
Dann begriff er, was Thor mit seiner Frage sagen wollte, und begann zu protestieren. Auf seiner Stirn sammelte sich kalter Schweiß. Man konnte ihm ansehen, wie die Panik in ihm aufstieg. Es hatte keinen Zweck, ihn zu diesem Zeitpunkt zu verhören. Er stand ganz offensichtlich unter Schock. Jeder noch so mittelmäßige Anwalt hätte eine Zeugenaussage, die in einem solchen Zustand abgegeben wurde, als unrechtmäßig abgeschmettert und einen ansonsten perfekten Fall gekippt.
Thor bahnte sich vom Auto den Weg durch die Dunkelheit und zu den drei Gebäuden zurück. Seit man ihn angerufen hatte, war eine Stunde vergangen, und er hatte nur wenige Stunden im Bett gelegen. Eigentlich hatte er einen gemütlichen Abend mit Fernsehen, ein paar Flaschen belgischem Bier und einer schlafenden Tochter auf dem Schoß geplant. Stattdessen war er völlig gerädert ins Bett gefallen, nachdem er den ganzen Tag in einem Reihenhaus im Hulgårdsvej drei Zimmer in einem gruseligen lila Farbton gestrichen hatte. Die Hauseigentümerin, eine sonnengebräunte Frau Ende sechzig mit schwerem Goldschmuck an Hals und Händen, war die Witwe des Polizeihauptmanns Greive, einem früheren Kollegen von Thor, der im Dienst getötet worden war. Unnachgiebig bat sie ihn an fast all seinen freien Tagen um einen Gefallen. Diesmal hatte sie ihm ihre überschwängliche Dankbarkeit zusätzlich dadurch bewiesen, dass sie ihn gebeten hatte, den Müll mitzunehmen, als er endlich nach Hause fahren durfte.
Und als er schließlich in einen tiefen Schlaf gesunken war, hatte das Telefon geklingelt. In der Notrufzentrale war der Anruf eines verwirrten, möglicherweise betrunkenen jungen Mannes eingegangen, der von einer Leiche berichtet hatte, über die er buchstäblich gefallen sei. Abgesehen davon, dass er irgendwo auf der Refshaleinsel ganz in der Nähe der Kläranlage war, hatte er nicht genau erklären können, von wo er anrief. Man hatte ihn gebeten, sich nicht von der Stelle zu rühren, und einen Streifenwagen geschickt. Zu diesem Zeitpunkt war es zwei Uhr nachts gewesen, und der junge Mann war den Beamten auf dem Refshalevej in Richtung Margretheholm entgegengekommen, sein Fahrrad neben sich her schiebend. Sie waren davon ausgegangen, dass er abhauen wollte, nachdem er seine Tat bereut hatte – in diesem Punkt war ihre Erklärung etwas unklar. Vermutlich hatten sie ihn ziemlich unsanft behandelt und ihn dann mitgenommen, damit er sie zu der Leiche führte. Die beiden Streifenpolizisten hatten schnell festgestellt, dass der Mann tatsächlich tot und höchstwahrscheinlich an einer Schussverletzung am Kopf gestorben war. Ein Rechtsmediziner war bereits unterwegs, und man rief die mobilen Mitarbeiter der Spurensicherung hinzu. Gleichzeitig stellte die Abteilung für personengefährdende Kriminalität am Politigården ein Team zusammen und berief den Vizekommissar Thor M. Dinesen zum Leiter der Voruntersuchung. Und das alles noch in derselben Nacht.
»Was zur Hölle ist das hier für ein Ort?«
Thor drehte sich um und begrüßte seinen Kollegen Daniel Kraus, dessen aufgedunsenes Gesicht und verquollene Augen darauf hindeuteten, dass man ihn gerade aus dem Tiefschlaf geklingelt hatte. Müde klopfte er eine Zigarette aus seinem Päckchen und zündete sie an. Mittlerweile standen überall Scheinwerfer, in deren gleißendem Licht sie lange Schatten warfen, wenn sie sich am Tatort bewegten.
»Warte mal ab. Dieser Ort ist jedenfalls perfekt für einen Mord. Es gibt hier keine unmittelbaren Nachbarn, abgesehen von einigen Proberäumen und einer Konzerthalle, die etwas weiter weg liegen, und der Kläranlage und dem Hafen mit ein paar alten Schiffwracks. Außerhalb der normalen Arbeitszeiten hält sich hier wahrscheinlich kein Mensch auf. Und wie du sehen kannst, ist es hier nachts finster wie in einem Grab. Und auch genauso heimelig, wenn du mich fragst. Das Gebäude vor uns ist eine Bootswerft für kleinere Schiffe. Und der Anbau ist das Seltsamste, was ich seit langem gesehen habe. Man denkt, es wäre eine normale Werkstatt oder so was, aber stattdessen wimmelt es dort vor Monstern.«
»Monstern?«
»Ja,
Weitere Kostenlose Bücher