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Verlieb dich nie in einen Vargas

Verlieb dich nie in einen Vargas

Titel: Verlieb dich nie in einen Vargas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Ockler
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geschützt. Inzwischen war es der Wind und nicht die Stromschnellen, der sich gewaltsam Bahn durch ihre Bäuche brach. Noch während wir zusahen, peitschte er durch den Canyon, trug Staub und Geröll mit sich, Partikel, die in ihrem unendlichen Ringen um Existenz, um Wandel, neue Pfade in den Fels fraßen.
    Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und schoss ein paar Bilder für eine Panoramaaufnahme, die ich später zusammenfügen wollte. Meine Hände waren unbeholfen und viel zu groß, und der merkwürdigste Gedanke von allen kam mir, als der Wind sie mit Staubkörnern bedeckte, die nicht größer als Stecknadelköpfe waren: Ich konnte mich den scheinbar unverrückbaren Steinen mit meinen riesigen menschlichen Händen und gewaltigen menschlichen Kräften nähern, mit allem auf sie einprügeln, was mir zur Verfügung stand, und nicht mal einen Bruchteil der Zerstörung verursachen, die diese winzigen, unsichtbaren Mächte anrichteten; Tag für Tag, Augenblick für Augenblick, noch Tausende, wenn nicht gar Millionen Jahre lang, nachdem mich jedes Lebewesen auf Erden vergessen haben würde.
    Es ließ mich schwindeln.
    Ich setzte mich neben Emilio auf einen rotbraunen Felsen. Er stellte das Essen hinter uns auf den Boden, und während er noch auf die weite Ebene zurückblickte, hob ich einen scharfkantigen Stein auf und ritzte neben meine Beine:
    Ich war hier …
    Der Wind pfiff in der Tiefe durch den Canyon und stöhnte unheimlich, als er auf dem Weg zu uns hinauf seine Klauen nach uns ausstreckte. Er peitschte meine Haare nach hinten, aber da hatte er schon etwas von seiner Kraft verloren. Er legte sich, noch ehe ich wieder zu Atem gekommen war.
    Das alles – der Wind, der Staub, die Felsen, die Bäume, die Straße – war das zugleich Zweckfreiste und Schönste, was ich je gesehen hatte.
    Emilio machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch als er den Ausdruck in meinen Augen sah, wurde seine Miene besorgt. »Was ist los?«
    »Dieser Ort ist atemberaubend. Es ist … Ich kann nicht …« Ich unterdrückte ein Schluchzen, und Emilio rieb meinen Rücken, bis die Worte ihren Weg nach draußen fanden. »Die Krankheit meines Vaters ist erblich.«
    »Wie bitte? Was soll das …?«
    »Meine Chancen, so zu enden wie er, stehen fünfzig zu fünfzig.«
    Ich hatte zwei Tage gegen diese Worte angekämpft, sie tief in mir eingemauert, weil ich wusste, dass sie sich in dem Moment, da sie meine Lippen verließen, in etwas verwandeln würden, das ich nicht länger ignorieren konnte.
    Die Wahrheit.
    Emilio bestätigte diese Befürchtung; der Schock breitete sich wellenförmig über sein Gesicht aus wie eine die Oberfläche kräuselnde Unterströmung.
    »Okay, aber du weißt nicht, ob … Haben sie nicht Wege, um … Bist du dir sicher? Also, richtig sicher?«
    Ich nickte, das Geständnis schmeckte bitter auf meinen Lippen. »Hier ist noch eine Möglichkeit, es in Zahlen auszudrücken. Von mir und meinen drei Schwestern werden zwei ihre Erinnerungen verlieren und ins Vergessen abgleiten. Und die anderen beiden werden ihnen dabei zusehen.«
    Emilio drehte sich von mir weg. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, seine Schultern starr. »Kann man es nicht behandeln? Wenn man es so früh weiß? Es muss doch etwas geben … Medikamente? Operationen? Therapien? Irgendetwas?«
    Die Verzweiflung in seiner Stimme war beinah zu viel für mich. Ich hasste und liebte sie gleichermaßen und das Gefühlschaos schnürte mir die Kehle zu.
    »Es gibt einen Test«, sagte ich steif, »aber er sorgt nur dafür, dass man die schlechte Nachricht frühzeitig erfährt.«
    Emilio griff nach einem faustgroßen Stein.
    »Eigentlich war geplant, dass meine Eltern zurück nach Argentinien gehen.« Ich plapperte jetzt, aber ich musste es alles loswerden, und wenn ich es hier auf dem Felsen sagte, würde der Wind die Worte vielleicht davontragen, sie irgendwohin mit sich nehmen, irgendwohin weit weg, wo ich sie nie wieder hören musste. »Ihr großer Traum war es, in Lourdes’ Nähe zu ziehen. Sie wollten irgendwann die ganze Familie dort vereint haben, aber sie sollten nächsten Sommer den Anfang machen. Sie hatten nur vor abzuwarten, bis ich mich im College gut einlebt habe.«
    Emilio schleuderte den Stein über den Rand und lauschte auf ein Geräusch, das nie kam.
    »Jetzt wäre ein Umzug zu riskant«, fuhr ich fort. »Papi könnte sich an Dinge von früher erinnern, seine alte Nachbarschaft und Freunde zum Beispiel, oder sich überhaupt

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