Verlieb dich nie in einen Vargas
zusahen, wie die Welt zu Staub wurde. Um mich daran zu erinnern, wie es war, in Emilios Armen zu liegen, seine Lippen auf meinem Schlüsselbein zu spüren, mit den Fingern die Linien auf seiner Landkarte aus Narben nachzufahren. Ich brauchte keine Fotografien, um an das alles zu glauben. Um mich daran zu erinnern, dass ich es erlebt hatte, selbst wenn ich dazu verdammt war, es eines Tages zu vergessen.
Bilder erzählten einem sowieso nicht die ganze Geschichte. Das war die andere Sache an ihnen – sie waren stets ein sorgfältig ausgewählter flüchtiger Eindruck, eine Momentaufnahme, die man aus dem Zusammenhang gerissen hatte. Meine Bilder von Papi und Emilio und ihrer Arbeit am Motorrad fingen die Erfolge ein, die guten Tage, aber Papis Anfall in der Drogerie hatte ich nicht dokumentiert. Die Arzttermine. Die Sorgenfalten, die sich im Zuge der vielen schlechten Nachrichten in Moms Gesicht gruben. Selbst das Erinnerungsalbum, das ich Zoe geschenkt hatte, war nur eine Illusion, ein Band mit absoluten Höhepunkten, das über die weniger schönen Episoden hinwegspulte.
Mit Bildern schnitten wir die Realität in Stücke. Wir wählten nur die kostbarsten Momente aus und entsorgten den Rest, als hätten sie nie stattgefunden.
Genau wie El Demonio es tat.
»Du bist noch spät wach, queridita .« Beim Klang von Papis Stimme sah ich von meinem Computer auf. Er lehnte am Türrahmen, ein altes Harleyhandbuch unter den Arm geklemmt, von dessen Seiten mir hundert blaue Post-it-Fähnchen zuwinkten. »Ich konnte auch nicht schlafen. Ay, deine Mutter schnarcht wie eine Horde Bären!«
»Ich vermute, du hast dich selbst aufgeweckt, Papi. Mom schnarcht nicht.«
Er lachte. »Das tut ihr alle, querida . Glaub mir. Wie war die Fahrt?«
»Einfach umwerfend.« Meine Wangen schmerzten, so breit war mein Lächeln. »Es war der Wahnsinn. Die Aussicht war fantastisch.«
Unter anderem.
Die Fältchen, die sich um Papis Augen bildeten, zeugten von seinen Emotionen. »Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, dich einmal selbst mitzunehmen, Juju. Wenn man jung ist, denkt man, man hätte noch alle Zeit der Welt, und dann kommt das Leben, und ein Tag geht in den anderen über, und ehe man sich’s versieht …« Er sah mich an und zwinkerte mir zu. »Hör nicht auf diesen jammernden viejito .«
Ich lächelte und beobachtete ihn, während er mich musterte, und ich fragte mich, wie viel er von dem, was mit ihm geschah, tatsächlich verstand. Spürte er es jedes Mal, wenn der dreckige Dämon eine weitere Erinnerung verschlang? War es wie ein Schaben, ein Nagen? Ein unerklärlicher, quälender Verlust? Hörte er es? Wusste er, wann es passieren würde, welche Gedanken oder Wörter oder Gesichter der Dämon als Nächstes verzehren würde? Welche Teile seiner Lebensgeschichte auf dem Boden des Schneideraums enden würden?
»Schön, dass du Spaß mit Emilio hattest«, sagte Papi. »Ich wusste, er würde gut auf dich aufpassen. Dieser Junge weiß, was er tut.«
Oha, da sagst du was . Ich zitterte bei der Erinnerung an den heutigen Tag, aber Papi schien nicht zu bemerken, dass mein zentrales Nervensystem von einem Wust elektrischer Kabel ersetzt worden war.
»Sieh dir mal die vielen verschiedenen Teile an, queridita . Er kennt sie alle in- und auswendig.« Papi legte das Harleyhandbuch auf meinen Schreibtisch und zeigte mir ein Schaubild mit kohlefarbenen Windungen aus Metall und Getriebe. Er kreiste Dinge mit dem Finger ein und benannte sie, als würde er mir helfen, für einen Biologietest zu lernen.
In Wahrheit hatte er mir nie bei den Hausaufgaben geholfen – diese Aufgabe war immer meinen Schwestern zugefallen, und dann war ich zu alt dafür geworden und hatte stattdessen mit Zoe und Christina im Witch’s Brew gelernt. Aber Lourdes – ihr musste er geholfen haben. Und Celi auch. Ich stellte mir vor, wie sie dicht gedrängt um den Küchentisch herum saßen und eine dieser Matheaufgaben über Zuggeschwindigkeiten ausknobelten oder irgendein Wortassoziationsding. Wahrscheinlich war er richtig gut darin gewesen, klug und geduldig.
Konzentrieren Sie sich auf die guten Erinnerungen, die Sie mit Ihren Lieben verbinden. Familienmitglieder empfinden es oft als tröstlich, sich daran zu erinnern, wie die Person einst war, und nicht daran, wie die Krankheit sie verändert hat. Bewahren Sie sich diese kostbaren Momente …
Das stand in einer der Broschüren. Es war etwas, das ich mir in den ersten Tagen nach der Diagnose immer wieder
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