Verlieb dich nie nach Mitternacht
Lächeln wurde nicht erwidert. Die Hand des Mädchens fühlte sich überraschend fest und schwielig an. »Ich bin Lisette. Ein sauberes Kleid findest du in der Truhe, die Schuhe stehen vor deinem Bett«, wies sie Maribel an. »Wenn du fertig bist, kommst du zu uns in die Küche. Aber beeil dich. Wer zu spät kommt, kriegt nichts mehr.«
Lisette wandte sich bereits zum Gehen, als Maribel sie zurückhielt. »Lisette, wo sind meine Sachen?«
Lisette hob erstaunt die Augenbrauen. »Ein Kleid findest du in der Truhe.«
»Nein, meine eigenen Sachen«, unterbrach Maribel sie hastig. »Mein Overall und meine Turnschuhe.«
Einen Moment lang sah Lisette sie nur ratlos an. Dann endlich hellte sich ihre Miene im plötzlichen Verstehen auf. »Die Bluse mit Beinen dran meinst du? Wenn du keinen Ärger haben willst, ziehst du das Kleid an.«
Etwas im Tonfall des Mädchens warnte Maribel davor, das Thema zu vertiefen. Sie würde sie später noch mal fragen. Doch eine Frage musste sie sofort stellen.
»Lisette?«
Lisette antwortete nicht, sondern warf Maribel nur einen ungeduldigen Blick zu.
»Wo ist hier das Bad?«
»Badetag war vorgestern. Eine Schüssel zum Waschen findest du in der Nische vor der Tür. Aber vergiss nicht, die Kanne wieder aufzufüllen.«
»Lisette, ich muss mal.« In ihrer Not schlang Maribel die Beine in der Höhe der Knöchel zusammen.
»Ach so! Der Abort ist gleich hinter dem Haus, wenn du rauskommst, rechts. Schieb den Riegel von innen vor, wenn du darauf bist. Ist besser so.«
Draußen im Hof tönte eine Glocke laut und kräftig. Stimmen wurden laut. Gelächter erklang. Man versammelte sich bereits. Lisette raffte mit der rechten Hand ihren weiten, knöchellangen Rock in Kniehöhe zusammen, um schneller laufen zu können. Bevor sie nach unten stieg, warf sie Maribel noch einen warnenden Blick zu. »Beeil dich.«
Schon polterte sie in ihren Holzschuhen die schmale Stiege hinab. Das Letzte, was Maribel von ihr sah, war ein Zipfel ihres wehenden Rockes.
Über Maribels Gesicht glitt ein Lächeln. Die Hektik, die das Mädchen verbreitete, passte auch gut ins einundzwanzigste Jahrhundert. Barfuß tappte Maribel über den Holzfußboden, der unter ihren Füßen knarrte, hinüber zur Truhe, die ihr zugeteilt war. Der Boden war so grob, dass sie befürchtete, sich einen Holzspan in die nackte Fußsohle zu ziehen. Schon nach wenigen Schritten schielt sie reumütig zu den klobigen Holzschuhen hinüber. Es war ein Fehler, sie zu verschmähen.
Maribel schob den Riegel der einfachen Truhe zurück, in der ein einziges Kleid für sie bereitlag. Der grobe, schwarze Baumwollstoff lag schwer in ihrer Hand. Der Schnitt kam Maribels Sinn für schlichte Formen entgegen Ein kleiner Stehkragen schmückte den Ausschnitt. Von der Taille abwärts hing der Rock in unzähligen schmalen Falten schlicht bis zu den Knöcheln hinab. Eine dunkelblaue Schürze mit Brustlatz vervollständigte das Kleid.
Rasch schlüpfte Maribel aus dem Nachthemd. Gewöhnt an Viskose und andere pflegeleichte Stoffe, verzog sie das Gesicht, als der raue Kleiderstoff ihre Haut berührte. Aber sie biss die Zähne zusammen und band auch die Schürze um. Sie war nie sonderlich eitel gewesen, doch als sie zu guter Letzt auch noch in die Holzschuhe schlüpfte, war sie froh, dass ihr der eigene Anblick im Spiegel erspart blieb. Mit geübtem Griff fasste sie die langen Haare im Nacken mit ihrem Haarband zusammen, strich sich mit den Händen über den ungewohnt langen Rock. Dann wandte sie sich zum Gehen. Lisette hatte ihr geraten, sich zu beeilen, und obwohl sie die Hektik, die sie veranstaltete, für übertrieben hielt, war Maribel die Warnung doch im Gedächtnis geblieben.
Sekunden später fragte Maribel sich allerdings, ob sie für ein Leben im neunzehnten Jahrhundert geschaffen war. Ihre Kammer lag im ersten Geschoss über einem Stall, in dem sich dicht gedrängt schwarzweiß gefleckte Kühe gegenseitig wärmten. Eine schmale Stiege führte nach unten mitten zwischen ihnen hindurch. Über Letzteres machte Maribel sich zunächst keine Sorgen. Größere Probleme bereiteten ihr die Holzschuhe, die ihr viel zu breit und klobig für die schmalen Stufen schienen. Es kostete Maribel etliche Schweißausbrüche, bis sie ohne hinunterzufallen den sicheren Boden erreicht hatte.
Unwirsch schob sie die riesigen Kuhmäuler beiseite, die sie neugierig bedrängten. Mit der Eleganz eines Trampeltieres bahnte sie sich ihren Weg aus dem Stall. Ihre Laune sank dabei
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