Verlieb dich nie nach Mitternacht
zwei Hälften getrennt hatte. Als sie einen starken Faden entdeckte, der sich aus der Mantelnaht der jungen Mutter löste, zog sie zur Probe daran. Die Naht löste sich weiter auf. Mit der bloßen Hand riss Maribel ein ausreichend langes Stück ab und nahm es doppelt.
Sie sah die Mutter an, die nur Augen für ihr Baby hatte. Was sie nun vorhatte, war ihr unheimlich, doch eine andere Möglichkeit kam ihr in diesem Moment nicht in den Sinn. Zunächst zaghaft, dann fester, wickelte sie den Faden eine Handbreit über dem Nabel des Jungen um die Nabelschnur. Langsam zog sie ihn über Kreuz zusammen, zog auch weiter, als sie Widerstand spürte.
Der Trick funktionierte. Der Faden durchtrennte die weiche Haut sauber.
»Dafür, dass Sie vorgeben, sich nicht auszukennen, machen Sie Ihre Sache nicht schlecht«, hörte sie hinter sich Friedrichs Stimme. Wie lange er ihr schon zugesehen hatte, wusste sie nicht. Aber sie atmete erleichtert auf, weil er wieder in ihrer Nähe war.
Ihre Anspannung wich allmählich. Erschöpfung machte sich in ihr breit. Müde trat Maribel einen Schritt beiseite, um Friedrich Gelegenheit zu geben, Frau und Kind in die Arme zu schließen.
Mit steifen Beinen entfernte sie sich ein paar Schritte von der Kutsche. Der dünne Overall, den sie trug, schützte sie kaum vor der schneidenden Kälte, die in dieser Nacht herrschte. Wahrscheinlich fror sie schon länger, doch vor Aufregung war es ihr nicht aufgefallen. Ihre Füße fühlten sich wie unförmige Klumpen an, als sie einen Fuß vor den anderen setzte. Sie sehnte sich nach einem Bad und einer Tasse heißer Schokolade, ihrem plustrigen Federbett und der zweiten Decke für besonders kalte Nächte. Und vor allem nach der Zentralheizung, um den Regler wie üblich auf die höchste Stufe zu stellen.
Schlagartig erinnerte sie sich an die vielen Familien, die ihretwegen zähneklappernd vor den Weihnachtsbäumen mit den elektrisch betriebenen Kerzen hockten und darauf warteten, dass Maribel die Heizungsanlage reparierte.
Maribels herzhaftes Gähnen ging nahtlos in das heftige Klappern ihrer Zähne über. Hoch über ihr am Himmel leuchtete noch immer der Weihnachtsstern hell und verheißungsvoll.
Was für eine Nacht.
»Bitte bringen Sie mich jetzt nach Hause. Mir ist kalt, und ich möchte ins Bett.«
»Kommen Sie schnell. Meine Frau bekommt Zwillinge.«
Überrascht lief sie zur Kutsche zurück. Agnes lag tatsächlich erneut in Wehen, die Röcke in Friedrichs Anwesenheit schicklich heruntergelassen.
»Sie haben wohl noch nie bei einer Geburt zugesehen?« Maribel grinste Friedrich breit an. Froh, ihm seinen Anranzer heimzahlen zu können. Vorsichtig zog sie an der Nabelschnur. Zweimal. Zusammen mit einem Schwall Blut rutschte eine glibbrige Masse heraus.
»So etwas nennt man Nachgeburt.«
Maribel staunte selbst über die weiche, warme Masse, die sich ungewohnt anfühlte, aber völlig geruchlos war. Agnes schien der Vorgang eher peinlich zu sein. Jedenfalls versteckte sie ihr Gesicht zwischen den Decken, die ihren Sohn vor der Kälte schützten. Schläfrig lehnte sie sich gegen die Wand, das wimmernde Kind fest an sich gepresst. Sie war mit ihren Kräften am Ende.
»Ich möchte nach Hause«, wiederholte Maribel eindringlich. »Wenn Sie mir den Weg zurück zeigen, geh ich allein. Dann können Sie Ihre Frau nach Hause bringen. Das Baby sollte nicht zu lange in der Kälte bleiben.«
Friedrich raffte die von der Geburt blutbefleckten und mit anderen Körperflüssigkeiten durchtränkten Decken zusammen. Er machte sich nicht die Mühe, sie sorgfältig zu falten, sondern warf sie achtlos zusammengeknüllt unter die Sitzbank, bevor er eine saubere Decke sorgfältig über seiner Frau und dem Kind ausbreitete.
»Steig vorne auf«, befahl er Maribel.
»Das ist wirklich nicht nötig. Zeigen Sie mir einfach nur den Weg.«
»Du kannst bei mir auf dem Hof wohnen, bis du nach Hause kannst.«
»Bis ich nach Hause kann? Was soll das heißen?«
»Was ich sagte. Das Zeittor ist nur einmal im Jahr geöffnet. In der Heiligen Nacht. Wenn die Uhr Mitternacht schlägt, schließt es. Dann ist die Durchreise nicht mehr möglich.«
Maribel hatte das Gefühl, als tunke jemand ihr Herz in Eiswasser. »Es gibt kein Zeittor.«
»Und wie bist du dann hierher gelangt?« Er sah sie nicht an, als er die Pferde, die geduldig gewartet hatten, vor die Kutsche spannte, doch sein Tonfall klang in Maribels Ohren spöttisch.
Sorgfältig prüfte Friedrich das Geschirr. Er wollte nicht
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