Verlieb dich nie nach Mitternacht
schmückten die Federbetten. Ein Tisch, zwei Stühle in der Nähe der Fenster. Neben jedem Bett eine hölzerne Truhe. Der Holzdielenboden war sauber geputzt, die Glasscheiben des winzigen Fensters blitzten im Sonnenlicht. An der Wand neben dem Fenster hing ein schlichtes Holzkreuz, in der Nische unter dem Fenster stand eine kleine hölzerne Muttergottesfigur. Die Person, die mit Maribel das Zimmer bewohnte, legte Wert auf ihren katholischen Glauben. Die aufgeklärte Maribel des einundzwanzigsten Jahrhunderts biss sich schuldbewusst auf die Lippen. Sie war bereits vor Jahren aus der Kirche ausgetreten.
Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sich ihr komplettes Weihnachtsessen noch unangetastet zu Hause in ihrem Kühlschrank befand. Tränen schnürten ihr die Kehle zu, als sie daran dachte. Sie hatte so kurz nach ihrem Umzug noch keine Gelegenheit gehabt, für ihre neue Wohnung Heimatgefühle zu entwickeln. Doch zumindest in dem Jahrhundert, in dem sie lebte, hatte sie sich zu Hause gefühlt.
1813!
1813?
1813!!
Maribel kämpfte gegen die verzweifelte Hoffnung an, vielleicht doch zu träumen. Dafür waren ihre Empfindungen aber viel zu real, ihre Wahrnehmungen zu konkret. Sie hatte sich nie für die Vergangenheit interessiert, sondern sie mit dem frühen Tod ihrer Mutter für beendet erklärt. Seither lebte sie sehr bewusst in der Gegenwart. Schockiert stellte sie fest, dass die Gegenwart, die sie kannte, die Zukunft war. Der Gedanke bereitete ihr Übelkeit. Sie musste sich zwingen, tief und ruhig durchzuatmen. Angestrengt bemühte sie sich, die Erinnerung an den gestrigen Abend noch einmal heraufzubeschwören.
Heiligabend. Die defekte Heizung. Die berechtigte Aufregung ihrer Mitbewohner.
Pindall. Was hatte er von ihr gewollt?
Und dann Boris, den sie sich einfach nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Der sie mit dem Versprechen verlassen hatte, dass sie sich wiedersehen würden.
Vielleicht in einer anderen Gestalt, vielleicht in einer anderen Zeit.
Maribel schnellte mit dem Oberkörper in die Höhe. Anstatt sich zu beruhigen, legte die Schlagzahl ihres Herzens noch zu.
Vielleicht in einer anderen Zeit.
Vor zwei Tagen noch hatte sie die Möglichkeit von Zeitreisen als Blödsinn verworfen. Nun befand sie sich selbst mitten im neunzehnten Jahrhundert.
Es konnte nur eine Erklärung dafür geben: Boris wartete da draußen auf sie. Ihre Aufgabe war es, ihn zu finden.
Freudig flatterte ein Schwarm Schmetterlinge in Maribels Bauch auf. Überrascht fragte sie sich, ob sie noch bei Verstand war. Weshalb sehnte sie sich nach einem Mann, der sie betrogen und beraubt hatte? Der von der Polizei gesucht wurde und für den sich offensichtlich auch Pindall interessierte?
Weil sie ihn liebte und immer lieben würde.
Und weil sie im Grunde ihres Herzens bedingungslos an seine Unschuld glaubte.
Laut aufstöhnend schlug Maribel die Hände vor das Gesicht und ließ sich zurück in die Kissen fallen.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie die Bettdecke zurückschlagen konnte. Überrascht starrte sie auf das weiße, lange Baumwollnachthemd, das sie trug. Schlicht und schmucklos hing es an ihr herab. An dem züchtigen Gewand wirkten die langen Bänder, die den Halsausschnitt zusammenhalten sollten, sich aber im Schlaf gelöst hatten, fast schon frivol. Vergeblich suchte sie unter dem Bett nach ihren Turnschuhen. Stattdessen standen dort echte Holzschuhe, wie man sie von Trachtenfesten in Holland her kannte. Weniger poliert, mit deutlichen Gebrauchsspuren.
Das soll wohl ein Scherz sein.
Brrr! Es schüttelte Maribel vor Kälte. Die Kammer war unbeheizt. Vergeblich hielt sie nach dem Ofen Ausschau. In diesem Zimmer gab es nur eine Möglichkeit, sich zu wärmen – schnell wieder unter die Bettdecke zu schlüpfen.
Maribel zuckte zusammen, als die Zimmertür von außen aufgestoßen wurde. Das junge Mädchen, das auf der Schwelle stand, war ihr auf Anhieb sympathisch. Mit seinem runden, rotwangigen Gesicht und den dicken braunen Haarzöpfen passte es exakt zu dem sauberen Eindruck, den die Kammer machte.
»Du hast zwölf Stunden geschlafen«, stellte es fest. »Wenn du dich anziehst, kommst du noch rechtzeitig zum Nachmittagskaffee. Die Köchin sagt, es gibt noch Reste von Weihnachtskuchen.«
Die Aussicht, endlich etwas zu essen zu bekommen, erfüllte Maribel mit tiefer Dankbarkeit. Mit ausgestreckter Hand ging sie auf das Mädchen zu. »Ich heiße Maribel.« Sie lächelte freundlich.
Ihr
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