Verlieb dich nie nach Mitternacht
Arbeit.« Michel schwankte leicht, als er sich vom Tisch erhob. Wie die anderen Männer hatte er mittlerweile so viel vom Branntwein getrunken, dass er nur noch in sein Bett zu fallen brauchte, um einzuschlafen.
Ratlos blieb Maribel mit Grete und dem Spülmädchen allein in der Küche zurück. Auch Grete zögerte. Schließlich löste sie die Knoten ihrer Schürzenbänder. Zwei Mädchen reichten für den Abwasch. Michel wartete bestimmt auf sei. Weshalb sollte sie sich zur Abwechslung nicht einen frühen Feierabend gönnen?
»Zeig der dummen Maribel, was sie zu tun hat, Elfi.« Das Mädchen schien um einige Zentimeter zu wachsen. Zum ersten Mal schenkte die Köchin ihr Vertrauen. Der verdiente Ausgleich nach der ungerechten Ohrfeige von vorhin.
»Du kannst dich auf mich verlassen, Köchin.«
Grete wandte sich Maribel zu. »Wenn du keinen Ärger willst, hörst du nicht eher auf, bis du mit dem Fußboden fertig bist, hast du mich verstanden?«
Maribel nickte ergeben. Sie bekam in jedem Fall Ärger, gleichgültig, wie sie sich verhielt. Also rief sie sich die wichtigste Überlebensregel von allen ins Gedächtnis zurück, die, die sie als vagabundierendes Waisenkind selbst geprägt hatte: Nimm Anordnungen entgegen, ohne zu widersprechen. Es gibt immer eine Möglichkeit, sinnlose Regeln zu umgehen.
*
Im Grunde war es Schikane, Maribel nicht nur den Fußboden, sondern auch die Fugen zwischen den Holzdielen putzen zu lassen. Sie ging jede Wette darauf ein, dass der Boden bereits vor den Feiertagen gründlich geschrubbt worden war. Die Krümel und Schmutzreste, die zwischen den Ritzen saßen, waren nur noch mit einem spitzen Draht herauszubekommen.
Strafarbeit hatte man das früher in der Grundschule genannt, entsann Maribel sich. Grimmig wünschte sie sich alle Mütter herbei, die sich damals im Namen ihrer Sprösslinge gegen diesen Psychoterror, wie sie die fünf Sätze Zusatzarbeit nannten, auf das Heftigste verwahrt hatten. Der Fußboden des neunzehnten Jahrhunderts hätte das Nachsehen gehabt.
So aber rutschte Maribel einsam auf Händen und Knien über die harten Dielenbretter. Beim schwachen Schein der Petroleumleuchte hielt sie den Blick fest auf die dunklen Bodenritzen gerichtet. Sie gähnte herzhaft und drückte das schmerzende Kreuz durch. Die Uhr zeigte fast elf. Drüben im Haupthaus brannte in einem der Zimmer noch Licht. Wenn ihr Ortsgefühl sie nicht täuschte, handelte es sich um das Zimmer, in dem Friedrich sie empfangen hatte.
Ob er in diesen Minuten wohl an seinem seltsamen kleinen Klavier saß und einen der Choräle spielte? Natürlich nicht. Die Klavierklänge wären mit Sicherheit bis draußen zu hören. Vielleicht studierte er aber auch gerade die Rechnungen und Briefe, die sich am Nachmittag auf seinem Schreibtisch gehäuft hatten.
Maribel wusste noch nicht, wie sie ihre Gefühle zu ihm einordnen solle. Sie spürte Zorn und Trauer, wenn sie an ihn dache. Weil er sie ohne Vorwarnung aus ihrem normalen Leben herausgerissen hatte. Ihm aber verdankte sie auch das überwältigende Erlebnis, bei einer Geburt mitgeholfen zu haben.
Wie es Agnes und dem Kind wohl ging? Warum hockte Friedrich allein in seinem Zimmer, anstatt bei seiner Frau zu sein?
Und dann war da noch dieses Gefühl sexueller Anziehung, das er in ihr geweckt hatte. Wie erstarrt hielt Maribel mitten in der Bewegung inne.
Was hatte sie da soeben gedacht?
Sexuelle Anziehung?
In plötzlicher Erkenntnis schlug sie erleichtert mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich! Wie hatte sie bloß so blind sein können?
Friedrich war Boris.
Er war ihr im Zeittunnel entgegengeeilt. Bei ihm reagierte ihr Körper mit sexueller Anziehung.
Nicht so intensiv wie früher, als der Mann ihrer Träume sich noch Boris nannte. Aber war es verwunderlich? Im Jahr 1813 war Friedrich verheiratet und gerade erst Vater geworden. Nach ihren eigenen Grundsätzen war ein solcher Mann tabu für sie.
Empfindungen sind sinnlos und trüben nur den Verstand.
Friedrich hatte ihr mit seinen Worten etwas ganz Bestimmtes mitteilen wollen, da war Maribel sich plötzlich sicher. Sie seufzte schwer, als gegenüber hinter dem Fenster das Licht erlosch.
*
Wie lange sie an den Fugen herumgekratzt hatte, wusste Maribel später nicht mehr. Die Arbeit kam ihr sinnlos und öde vor. Mehr als einmal dachte sie daran, einfach aufzuhören und sich in ihr Bett über dem Kuhstall zu verkriechen. Doch wenn der Stoff des Kleides über ihren Rücken kratzte, schmerzten noch
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