Verlieb dich nie nach Mitternacht
immer die Striemen, die Gretes Reisigbesen auf ihrer Haut hinterlassen hatte. Sie fürchtete sich nicht vor den Schlägen, wollte sie aber auch nicht unnötig riskieren.
Maribel sammelte gerade ihre Arbeitsutensilien ein, als sie deutlich das Geräusch schnell näher kommender Pferde erkannte. Laut schlugen die Hunde an. Instinktiv verspürte sie das drängende Bedürfnis, sich in die scheinbare Sicherheit ihrer kleinen Kammer zu flüchten. Doch erschrocken sah Maribel sich einem Lieutenant der französischen Besatzungsarmee gegenüber, als sie das Wirtschaftsgebäude verlassen wollte. Unter seiner schwarzen Pelzmütze blickte er sie böse an.
Drüben im Haupthaus gingen die Lichter an. Der Fremde entlud einen Schwall von Befehlen in scharfem Französisch über sie, die Maribel nicht verstand. Begriffsstutzig starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Schulfranzösisch war den Lehrern nicht mehr als ein Ausreichend wert gewesen und lag bereits seit Jahren brach.
Verärgert riss der Soldat ihr die Lampe aus der Hand. Rücksichtslos drängte er sich an ihr vorbei ins Haus. Maribel schlug mit dem Rücken gegen den Türrahmen. Sie biss die Zähne zusammen.
»Bonsoir, Monsieur le Lieutenant«, hörte sie endlich erleichtert Friedrichs Stimme neben sich.
Nur mit Hemd und Hose bekleidet, übernahm er das Reden, ruhig und beherrscht in klarem Französisch. Zu ihrer Verwunderung entdeckte sie an der Brust die französische Kokarde. Er stand jetzt so, dass er Maribel mit dem Rücken verdeckte. Unauffällig steckte er ihr ein Band in den französischen Nationalfarben zu. Blau-Weiß-Rot als Zeichen der Ergebenheit zu Frankreich und Napoleons Truppen. Maribel war geistesgegenwärtig genug, um es anzulegen. Es nicht zu tragen entsprach einer groben Pflichtverletzung und kam fast einem Landesverrat gleich.
»Pardonnez-moi, Monsieur le Lieutenant. La fille est …« Selbst ihm schien die passende Vokal zu fehlen. Stattdessen zeigte er auf die schreckerstarrte Maribel und signalisierte mit einer Handbewegung, die man wohl auf der ganzen Welt verstand: Das Mädchen ist schwachsinnig.
Maribel nickte eifrig. Wenn die Lüge dazu taugte, ihr Repressalien zu ersparen, dann war sie eben schwachsinnig.
»Vite, vite, vite!«
Mit lauten Kommandos trieben die Soldaten die Bewohner des Gutes auf dem Hof zusammen. Alle. Die Einzigen, die verschont blieben, waren Agnes, die im Wochenbett lag, und das Neugeborene. Die Soldaten nahmen keine Rücksicht auf die späte Stunde. Kaum jemandem ließen sie Zeit, sich vollständig anzukleiden. Die Frauen trugen wärmende Tücher über ihren Nachtgewändern, die meisten Männer trotz der schneidenden Kälte nur ihre Hosen über den Unterhemden.
Mit grimmigem Gesicht baute Michel sich breitbeinig an der Spitze seiner Leute auf. Er schien nur auf das Zeichen von Friedrich zu warten, um sich auf die Soldaten zu stürzen. Es kam kein Zeichen. Angesichts der Übermacht der Franzosen, die ihre Waffen auf sie gerichtet hielten, wäre ein solcher Versuch sinnlos gewesen.
»Im Namen Seiner Majestät des Kaisers. Friedrich von Leyen, Ihr werdet verdächtigt, auf Eurem Hof englische Schmuggelware zu verstecken. Ich habe den Befehl, Euer Haus und Hof zu durchsuchen und alles, was den Vorwurf erhärtet, zu beschlagnahmen und zu vernichten. Seid Ihr bereit, unsere Arbeit zu unterstützen?«
Der Lieutenant sprach nun deutsch. Offenbar, um wirklich jedem der Anwesenden den Ernst der Situation zu verdeutlichen.
Friedrich wirkte vollkommen ruhig, als er vortrat. »Es liegt uns fern, Widerstand zu leisten, Monsieur le Lieutenant. Aber Eure Suche wird vergeblich sein. Weder meine Leute noch ich verstoßen gegen das geltende Recht. Auf meinem Hof werdet ihr keine englische Ware finden.«
Der Hof wurde nur vom Schein einiger Gaslampen erhellt, deren flackerndes Licht die Szenerie gespenstisch beleuchtete. Maribel spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten, als der Lieutenant seinen Männern das Zeichen zum Ausschwärmen gab. Nur einige wenige blieben bei den Leuten im Hof zurück, die Waffen weiter auf sie gerichtet.
Niemand sprach ein Wort. Instinktiv spürte auch Maribel die Gefahr, die über ihnen schwebte. Friedrich hatte ihr genug erzählt, um zu wissen, dass die napoleonischen Truppen mit dem sprichwörtlichen Rücken zur Wand kämpften. Nichts war so gefährlich wie ein verwundeter Tiger. Im Kampf ums Überleben war er imstande, einige andere mit in den Tod zu reißen.
Unterdrücktes
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