Verlieb dich nie nach Mitternacht
versuchen. Aber ich weiß zum Beispiel nicht, weshalb ich kein Englisch sprechen darf.«
»Du besitzt keinerlei Kenntnisse über unsere Zeit?«
»Vorbei ist vorbei. Tote Leute interessieren mich nicht.«
»Manchmal können tote Leute ausgesprochen lebendig sein.« Friedrich lächelte. »Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass jede Gegenwart nur durch ihre Vergangenheit zu begreifen ist?«
Friedrich versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als Maribel verstockt schwieg. Es wäre bestimmt amüsant gewesen, einen philosophischen Diskurs mit einem Menschen aus der Zukunft zu führen. Aber dem Exemplar, das mit trotzig vorgeschobener Unterlippe vor ihm stand, schien nicht der Sinn danach zu stehen. Anscheinend verfügten die Frauen der Zukunft über ebenso wenig wirkliche Geistesbildung wie ihre Geschlechtsgenossinnen der Gegenwart.
»Also gut, ich fasse mich kurz. Wie du weißt, zählen wir das Jahr 1813. Es ist fast zehn Jahre her, dass Napoleon, der Kaiser der Franzosen, beschlossen hat, die Grenze Frankreichs bis zum Rhein vorzuschieben. Auch wir hier auf dem Isselshof stehen unter französischer Protektion. Napoleon hat ganz Europa mit seinen Heeren überzogen. Um seinen Erzfeind England zu schwächen, wurde über die linksrheinischen Gebiete die Kontinentalsperre verhängt. Die Einfuhr englischer Waren ist verboten. Wie eine Spinne hat die französische Geheimpolizei das gesamte Kaiserreich mit einem dichten Netz überzogen. Jeder, der sich verdächtig macht, mit England zu paktieren, sieht sich unangenehmer Befragung ausgesetzt – sofern es dabei bleibt.« Nachdenklich schlug Friedrich ein paar Tasten auf dem Klavichord an. In Maribels Ohren ungewohnt metallene Töne. »Verstehst du jetzt, weshalb Grete und Michel so erschrocken reagiert haben?«
»Ich hätte in Geschichte besser aufpassen sollen.«
»Du bist unterrichtet worden?«
»Länger als mir damals lieb war.«
Friedrich schnaubte verächtlich durch die Nase. »Ihr Frauenzimmer seid doch alle gleich. Wenn ihr Deutsch lesen und schreiben oder nach einem französischen Muster einen Brief zusammenstoppeln könnt, haltet ihr euch bereits für gebildet. Aber ich vergaß: Du bereitest dich auf die Ehe vor. Dafür wird dein Wissen wohl langen.«
Während seines Monologes hatte Friedrich begonnen, Maribel wie ein gereiztes Raubtier zu umkreisen. Als Maribel plötzlich laut auflachte, klatschte er sich ungehalten mit der Hand gegen den eigenen Oberschenkel.
»Oh, das ist ein Missverständnis. Ich heirate nicht. Ich arbeite in einem Ehevermittlungsinstitut.«
»Du verstehst dich auf das Arrangieren von Ehen? Eine sehr nützliche Beschäftigung. Geld zu Geld – Land zu Land.«
»Ich vermittle Liebesehen.«
»Liebesehen?« Sein Entsetzen war echt.
»Aber ja. Wie sonst können zwei Menschen ihr Leben lang zusammenbleiben?«
»Indem sie ihren Verstand gebrauchen. Eine Ehe ist eine Zweckgemeinschaft, die Land zu Land führt und hilft, das Erbe der Väter zu sichern. Liebe? Pah! Nur ein Gefühl, das vergeht.« Auf Friedrichs Stirn erschien eine steile Zornesfalte.
»Die meisten Menschen meines Jahrhunderts sehnen sich nach tiefen Empfindungen und Schmetterlingen im Bauch.«
»Pah! Diese Flausen hat euch dieser Novalis in den Kopf gesetzt. Diese Romantiker mit ihrem Geschwätz von der immerwährenden Liebe haben euch Weibsleuten den Kopf verdreht.«
Maribel ahnte, dass sein Zorn mit seiner eigenen Ehe zusammenhängen musste. Um ihn abzulenken, wechselte sie das Thema.
»In meinem Jahrhundert war dieser Ort hier deutsch. Ewig kann Napoleons Herrschaft also nicht dauern.«
Maribel spürte, wie er aufgewühlt um Fassung rang. Schließlich hatte er sich so weit im Griff, dass er auf ihre Bemerkung eingehen konnte.
»Ich denke sogar, Napoleons Ende steht kurz bevor. Mit seinem Feldzug gegen Russland hat er sich übernommen. Seit dem Brand Moskaus ist er auf der Flucht. Seine Truppen sind fast aufgerieben. In der Schlacht von Leipzig hat er eine vernichtende Niederlage durch die alliierten Armeen erlitten. Wie man hörte, sind bei Köln bereits die ersten Kosaken gesichtet worden.«
»Die russische Armee ist über den Rhein?«
»Kein Grund zur Sorge. Sie kamen mit zwei Kähnen, verbreiteten Schrecken und zogen sich dann mit vier Bürgern von Köln zurück. Seither ist es ruhig.«
»Und was ist aus den Menschen geworden, die sie mitgenommen haben?«
Friedrich zuckte unbeteiligt mit den Achseln. »Die Zeiten sind unruhig. Ohne
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