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Verlieb dich nie nach Mitternacht

Verlieb dich nie nach Mitternacht

Titel: Verlieb dich nie nach Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Kent
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Begleitung solltest du den Hof nicht verlassen.« Er zog aus seiner Westentasche eine goldfarbene Taschenuhr. »Sieh zu, dass du pünktlich zum Essen kommst.«
    Maribels Audienz bei ihm war beendet. Vermutlich hatte sie ohnehin schon viel zu lang gedauert. Die übrigen Dienstboten würden sich das Maul über sie zerreißen.
    »Um dir den Umgang mit den anderen zu erleichtern, habe ich Michel gesagt, du seist schwachsinnig.«
    »Danke«, erwiderte Maribel gedankenverloren.

XII
    Es war achtzehn Uhr, als die Glocke zum Essen läutete. Der offizielle Dienst auf dem Hof war seit einer Stunde beendet. Draußen war es längst dunkel. Der Wind hatte erneut aufgefrischt und wirbelte einige Schneeflocken vor sich her. Auf der Schwelle zur Küche blieb Maribel stehen, um sich die Flocken von ihrem Kleid zu klopfen, bevor sie den Stoff durchnässten. Ihre Füße in den Holzschuhen waren eiskalt. Sie nahm sich vor, später in der Kammer Lisette um ein paar wärmende Strümpfe zu bitten. Dann erst fiel ihr auf, dass sie als Schauspiel für die Übrigen im Raum diente, die alle ihre Plätze bereits eingenommen hatten.
    Die Sitzordnung war die gleiche wie am Nachmittag und zu allen Zeiten. Michel, der Meisterknecht, hockte an der Kopfseite des langen, gedeckten Tisches. Er musterte Maribel finster. Für ihn war sie bloß eine weitere Belastung, die ihn Brot und Energie kostete. Ihm zur Rechten saß Jan, der Pferdeknecht, der die Sorge für die Pferde trug. Zur Linken Michels hatte Jakob, der Schäfer, Platz genommen. Die Sitzverteilung entsprach der traditionellen Hierarchie. Nach dem Hausherrn war Michel der mächtigste Mann auf dem Hof. Anordnungen des Herrn wurden erst nach seiner Zustimmung gültig. Was die Pferde anging, war Jan zuständig, doch in allem Übrigen hatte auch er sich dem Willen Michels unterzuordnen. Das übrige Gesinde hatte seinen Platz entsprechend seiner Rangfolge. Erst die Männer, dann die Weiber, zuletzt der Schweinejunge.
    Vergeblich suchte Maribel mit den Augen nach einem freien Stuhl, auf dem sie selbst Platz nehmen konnte. Noch bevor sie fragen konnte, deutete Michel mit einer wegwerfenden Geste auf sie.
    »Ihr Name ist Maribel. Der Gutsherr hat sie gestern Nacht auf der Straße aufgegriffen. Weiß der Himmel, was sie da wollte. So wie es den Anschein hat, ist sie schwachsinnig.«
    »Das arme Ding.« In Gretes Blick entdeckte Maribel nicht einmal den Anflug von Mitgefühl.
    »Schweinehirt, bring ihr einen Schemel. Sie sitzt neben dir.«
    Der Junge, der von der Kante seines Stuhles rutschte, war nach Maribels Einschätzung kaum älter als zwölf. Sofort sprang er auf, um Maribel aus dem Nebenraum einen Schemel zu besorgen, den er ans Tischende neben sich stellte. In seinen Augen blitzte es freudig. Bislang war er der Letzte in der Rangfolge gewesen. Von nun an bildete Maribel, die Schwachsinnige, das Schlusslicht.
    »Grete, ich denke, ich werde sie dir unterstellen. Im Haus wird sie vermutlich das wenigste Unheil anrichten«, bestimmte Michel.
    Grete brummte etwas Unverständliches. Alles, was im Haus an Arbeit zu verteilen war, gehörte zu ihrem Aufgabenbereich. Sie würde sich da nicht hereinreden lassen. Auch nicht von Michel. Aber das würde sie ihm diese Nacht im Bett noch einmal ganz genau erklären.
    Statt Michel zu widersprechen, reichte sie Maribel einen tiefen Porzellanteller, bei dem bereits einige Ecken abgesprungen waren, sowie ein Messer, einen Löffel und eine Gabel. »Gib gut darauf acht. Die bringst du ab heute zu jeder Mahlzeit mit.«
    »Danke.« Maribel wagte ein kleines Lächeln, das nicht erwidert wurde. Herzlichkeit gehörte nicht zu den hervorstechendsten Merkmalen der Menschen auf dem Hof, wie ihr schien.
    Auf ein Zeichen des Meisterknechts trug eine Spülmagd zwei hölzerne Auflageplatten mit geschnittenem Fleisch herbei, die sie auf dem Tisch platzierte. In die Mitte kam eine große Schüssel mit dampfenden Kartoffeln. Einige waren auch von ihr geschält worden, stellte Maribel mit plötzlich aufwallendem Stolz fest.
    Endlich gab Michel das Zeichen zum Essen, indem er sich von den Kartoffeln auflegte. Die Übrigen am Tisch bedienten sich in der Reihenfolge der Sitzordnung. Als die Schüssel bei Maribel ankam, war sie beinahe leer. Doch sie hatte zu lange unfreiwillig gefastet, um sich zu bescheiden. Unsicher, wann es die nächste Mahlzeit für sie geben würde, machte sie es dem Schweinehirten nach: Eine Kartoffel steckte sie sich in den Mund, eine spießte sie auf die Gabel

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