Verlieb dich nie nach Mitternacht
Schluchzen riss Maribel aus ihren Gedanken. Ben, der kleine Schweinehirt, hatte es nicht geschafft, in seine Holzschuhe zu schlüpfen, als die Soldaten ihn von seinem Lager aufscheuchten. Nun stand er auf bloßen Füßen neben ihr und trat von einem Fuß auf den anderen, um nicht am Boden festzufrieren. Ohne darüber nachzudenken, legte Maribel den Arm um die mageren Schultern des Jungen. Sie konnte spüren, wie er zitterte. Ob vor Kälte oder Angst, war letztlich gleichgültig. Der Junge tat ihr leid. Wenn er noch lange barfuß in der Kälte stand, würde er sich den Tod holen.
Maribel blickte zu Friedrich hinüber, um ihn auf Ben aufmerksam zu machen. Doch der war vollauf damit beschäftigt, vor den Augen des Lieutenants Haltung zu bewahren und eine gleichgültige Miene zur Schau zu tragen. Er wusste, dass das geringste Anzeichen von Nervosität den Verdacht gegen ihn noch verstärken würde.
Fassungslos ließ Maribel ihren Blick über die Gesichter der Menschen wandern, die sich auf Befehl der Franzosen mit ihr im Hof versammelt hatten. Sie blickte in ausdruckslose Mienen. Auch sie mussten das Weinen das Jungen hören. Fühlte sich denn keiner für ihn verantwortlich?
Vor Maribels geistigem Auge erschien ein Bild, das sie am liebsten sofort wieder verdrängt hätte. Eine Erinnerung, die auch Jahre später noch so heftig schmerzte, dass es ihr tief in ihrem Inneren die Brust zusammenzog.
Schon seit dem Aufstehen hatte sie sich damals von einer seltsamen Unruhe getrieben gefühlt, die sich in der Schule von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde steigerte. Nach Schulschluss hielt Maribel es dann nicht mehr aus. Gegen ihre sonstige Gewohnheit rannte sie nicht in den städtischen Hort, den sie regelmäßig besuchte, sondern gleich ins Krankenhaus zu ihrer Mutter.
Keine der Krankenschwestern sah sie kommen oder rechnete mit ihr. Deshalb warnte auch niemand sie vor dem Anblick ihrer toten Mutter. Still und blass lag sie auf dem Bett, als schliefe sie. Ein Pfleger entfernte die nun überflüssigen Infusionsnadeln. Mit einem leisen Klack schaltete er das EKG ab.
Damals hatte Maribel keine Sekunde gebraucht, um zu begreifen, was geschehen war. Ihre Mutter selbst hatte sie auf diesen Moment vorbereitet. Aber es war etwas anderes, den Tod theoretisch zu besprechen, als seiner Endgültigkeit gegenüberzustehen.
Maribel hatte kehrtgemacht, war blind vor Tränen in den strömenden Regen hinausgelaufen und stundenlang ziellos durch die Straßen geirrt.
Ein Kind, das um seine tote Mutter weinte.
Sie hatte sich unendlich verloren gefühlt.
Im Laufe der Jahre war die Erinnerung verblasst. Nur ein unglücklich weinendes Kind war imstande, an ihr zu rühren. So wie nun Ben, der Schweinejunge.
Maribel dachte nicht über die möglichen Konsequenzen nach, als sie ihre Schürze abband und sich vor den Jungen kniete.
»Komm, ich helf dir.« Sanft versuchte sie, den rechten Fuß des Jungen anzuheben, um ihn mit der Schürze gegen die Kälte zu schützen, doch erst, als er verwundert mithalf, gelang es ihr. Sie begann, den zweiten Fuß mit den Händen zu massieren.
»Allez!«
Maribel verlor das Gleichgewicht, als sich die Spitze eines Bajonettes unsanft in ihren Rücken bohrte. Um den Jungen nicht mit zu Boden zu reißen, ließ sie ihn los. Doch vor Schreck krallte er seine schmutzigen Fingernägel in ihren Oberarm.
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
Immer wieder stieß der Soldat mit seiner Waffe nach ihr. Wich sie vor ihm auf dem Boden zurück, setzte er ihr nach. Er schien sie für die größte frei herumlaufende Bedrohung links des Rheins zu halten.
»Sehen Sie denn nicht, dass ich dem Jungen nur helfen will?«
Unbeirrt fuchtelte der Mann mit dem Gewehr vor ihrer Nase herum. Niemand kam ihr zu Hilfe. Maribel, übermüdet und gereizt, schlug verärgert von unten gegen das Gewehr.
Ein Schuss löste sich. Dem lauten Hall folgte entsetzte Stille. Dann war plötzlich der Teufel los. Aus allen Richtungen strömten die Soldaten herbei, um ihrem bedrängten Kameraden beizustehen. Mit ihren Gewehren hielten sie die Hofbewohner in Schach. Maribel zwang man auf die Knie. Flehend suchte sie nach Friedrich, doch der blickte absichtlich an ihr vorbei. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten.
Das Mienenspiel des Lieutenants verhieß nichts Gutes. Maribel dämmerte, dass er wahrscheinlich die ganze Zeit nur darauf gewartet hatte, ein Exempel statuieren zu können. Maribel bot ihm die Gelegenheit dazu.
»Ein Angriff auf einen Soldaten Seiner
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