Verlieb dich nie nach Mitternacht
hatte er Vorrang gelassen, als es galt., sich mit neuem Schuhwerk zu versorgen.
Das Schicksal dankte es ihm, indem er sich vor Maribel blamierte. »Wodka!« Wütend riss Andrej einem verdutzten Soldaten die Flasche aus der Hand und nahm einen kräftigen Schluck.
Maribel biss sich die Lippen blutig, um nicht zu weinen. Ohne sich umzusehen, rannte sie zum Haus.
*
Die Köpfe der Mägde und Knechte am Tisch fuhren auseinander, als Maribel das Haus betrat. Einen Augenblick lang verharrte sie auf der Schwelle, um ihr vom Wind zerzaustes Haar zu ordnen. Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass während ihrer Abwesenheit über sie gesprochen worden war. Selbst Lisette wandte die Augen ab, als Maribel sich setzte.
Ein unausgesprochener Vorwurf lag in der Luft. Maribel glaubte, ihn mit den Händen greifen zu können. Das Essen, das sie sich auf den Teller gehäuft hatte, bevor Andrej sie hinausgerufen hatte, war längst kalt. Demonstrativ erhob Jan sich genau in dem Moment von seinem Platz, als Maribel die Hand nach einem kläglichen Rest lauwarmer Soße ausstreckte. Damit war die Mahlzeit beendet.
»Gute Nacht.« Jan ging hinaus, um im Stall noch einmal nach den Pferden zu sehen. Er schien sich mit seinem Gruß an alle außer Maribel zu wenden.
Du spinnst, das bildest du dir bloß ein, versuchte sie sich selbst zu überzeugen.
Doch als sie später Lisette beim Abwasch half – mittlerweile befand sich auch die Spülküche im Haupthaus, die Wirtschaftsküche wurde von den Soldaten mitbenutzt –, wurde sie rasch eines Besseren belehrt.
»Russenliebchen!«
Ruhig griff Maribel nach dem Geschirrhandtuch.
»Du meinst doch nicht etwa mich damit?«
»Wen denn sonst?« Verbissen wienerte Lisette an einem großen Kessel herum.
»Ich übersetze für Andrej, sonst nichts.«
»Ach! Und weshalb nimmt er dich zum Übersetzen in seine Arme?«
»Und weshalb nimmt er mich zum Übersetzen in seine Arme?«, äffte Maribel das Mädchen genervt nach. »Er wollte mir eben etwas erklären.« Sie zögerte. Die Skepsis stand Lisette ins Gesicht geschrieben.
»Mensch, ich bin froh, dass ich ihn überhaupt verstehe. Ständig muss ich nachfragen. Stell dir mal vor, ich mache einen Fehler. Dann endet jemand vor dem Exekutionskommando, der da nicht hingehört.«
»Du bist die Einzige in der ganzen Gegend, die seine Sprache spricht.«
»Na und? Ich habe es eben in der Schule gelernt?«
»Du hast eine richtige Schule besucht?« Vor Staunen ließ Lisette den Putzlappen sinken. Zu spät wurde Maribel klar, dass sie einen Fehler begangen hatte.
»Na, das ist ja fein! Eine richtige Schule! Wo noch nicht einmal ein Mädchen wie ich genügend Geld dafür hat. Fünf Stüber, um rechnen und lesen zu lernen, fürs Schreiben sechs zusätzlich.« Lisette redete sich in Rage.
»Willst du wissen, was ich glaube?«, fuhr sie fort und stocherte dabei mit dem Zeigefinger auf Maribels Brustbein herum. »Ich glaube, dass du ein ganz durchtriebenes Weibsstück bist und nicht zum ersten Mal mit einem Russen im Bett liegst.«
Erzürnt schlug Maribel die Hand mit dem bohrenden Finger zur Seite. Einen Moment lang spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, Lisette zu ihrer Rechtfertigung einfach die Wahrheit zu gestehen. Ihr von der Weihnachtsnacht zu erzählen, in der Friedrich wie ein Geist aus dem Nichts aufgetaucht war, um sie aus der Zukunft in ein Jahrhundert zu holen, in dem plündernde Truppen jeder Couleur über friedliche Einheimische herfielen und Kinder nur dann eine Chance auf eine Schulbildung besaßen, wenn das Portemonnaie ihrer Eltern dafür ausreichte.
»Verrätst du mich, wenn ich dir die Wahrheit erzähle?«, fragte sie stattdessen.
»Geheimnisse sind bei mir immer gut aufgehoben.«
Maribel musste innerlich lachen, als sie merkte, wie begierig Lisette lauschte. »Also gut, aber wehe, du erzählst irgendjemandem davon.«
»Ich schwöre!« Lisette hob die Finger zum Schwur.
»Er hieß Boris und war Halbrusse. Ich dachte, er liebt mich, doch er hat mich bloß ausgenutzt.« Sie hörte selbst, dass ihre Stimme plötzlich ein dramatisches Tremolo annahm.
»Er hat dir die Unschuld geraubt?«
Maribel stutzte. »Mein Geld hat er genommen.«
Lisette warf den Kopf zurück und lachte schallend. »Als ob unsereiner Geld hat. Aber ich hatte recht: einmal Russe, immer Russe.«
Maribel hing das Geschwätz plötzlich zum Halse raus. Es kam ihr billig und leer vor. »Wenn du nicht aufhörst, so dumm daherzureden, verrate ich der gnädigen Frau, dass du
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