Verlieb dich nie nach Mitternacht
ihm den Rücken zukehrte und ihr Hals schutzlos vor ihm lag. Maribel spürte das kalte Metall seines Messers an ihrer Kehle. Augenblicklich begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Er reagierte sofort und ließ das Messer sinken.
»Im Töten bin ich besser als in allem anderen«, sagte er leise und lächelte, ohne dass es sich in seinen Augen widerspiegelte. Ein trauriges Lächeln. Nachdenklich betrachtete er sein Messer. Plötzlich schien es ihm, als klebe Blut dran.
»Krieg ist kein Spiel, Maribel. Als Napoleon in Russland einzog, griff ich wie viele meiner Kameraden zu den Waffen. Ich habe bei Borodino gekämpft, eines Tages werden die Geschichtsbücher davon erzählen.«
»Es klingt, als ob du stolz darauf bist.«
Andrej schnaubte zornig durch die Nase. Weiß hing sein Atem in der Luft. »Stolz! Niemand, der dabei war, wird darauf stolz sein. Wie alle, die davongekommen sind, bin ich froh, am Leben zu sein.«
Plötzlich wurde Maribel sich seiner Nähe bewusst. Er hatte sie nicht losgelassen, als er sprach, hielt sie noch immer im Arm. Die Stärke, die von ihm ausging, trieb ihr die Röte in die Wangen, erwärmte ihren Körper. Aber sie spürte auch die undefinierbare Traurigkeit, die ihn umgab.
Langsam drehte sie sich zu ihm um. Nur wenige Zentimeter fehlten noch, bis sie sich berührten. Fasziniert tauchte ihr Blick in die Abgründe seiner schwarzen Augen, in denen sich die russische Steppe widerzuspiegeln schien. Die Weite. Die Schwermut. Die Sehnsucht nach Vollendung.
»Gibt es eine Frau, die auf dich wartet?« Die Frage rutschte ihr ohne nachzudenken heraus. Sie wunderte sich, weshalb ihr Herz so heftig klopfte, als sie auf die Antwort wartete.
Um seine Augen herum erschienen winzige Lachfältchen. Nur einen Moment lang. Dann blickte er wieder ernst. »Ja.«
»Oh!«
»Meine Mutter.« Nun lachte er doch, weil er sie aufs Glatteis geführt hatte. »Und meine Schwester. Sofern sie nicht längst irgendeinen nichtsnutzigen Burschen geheiratet hat.« Er zögerte.
War jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um ihr seine Liebe zu gestehen?
Nein. Niemals. Seine Miene verfinsterte sich. Mit eigenen Ohren hatte er neulich nachts in der Küche das Liebesgeflüster zwischen Maribel und diesem verachtenswerten Schwächling Friedrich mitanhören müssen. Dabei hatte er die ganze Zeit in seinen Handschuh gebissen, um vor Wut und Enttäuschung nicht laut herauszubrüllen.
»Du hast da wohl mehr Glück, habe ich recht?«, platzte er heraus.
Sie trat einen Schritt zurück. »Was meinst du?«
»Euer Hausherr scheint nicht nur seinen Hof und seine Familie im Sinn zu haben.«
Friedrich und sie des Nachts in der Küche. Erschrocken erinnerte Maribel sich. Hatte Andrej sie beobachtet?
»Unsinn.« Absichtlich senkte sie den Blick.
»Schlaft ihr miteinander?«
»Nein!« Empört stapfte sie ein paar Schritte von ihm fort. »Und selbst wenn, was geht es dich an?«
»Ich will wissen, ob die Frau, die ich liebe, mir treu ist.«
Der Satz war ausgesprochen. In der klaren Luft der Winternacht schwebte er zwischen ihnen wie eine ungeheure Verheißung von Glück. Aufgewühlt schossen Maribel die Tränen in die Augen.
Warum sagt er so etwas Wunderschönes? Mir, einer Fremden? Ist das seine Methode, eine Frau in sein Bett zu bekommen?
»Ich weiß nicht, was du damit beabsichtigst. Aber du kannst unmöglich behaupten, mich zu lieben …«
»Weshalb nicht?«
»Weil man niemanden lieben kann, den man gerade erst kennengelernt hat.«
»Du hast dich noch nie auf den ersten Blick in einen Mann verliebt?«
Statt einer Antwort presste sie die Lippen fest aufeinander. Oh doch, sie kannte das Gefühl nur zu genau, von der ersten Sekunde einer Begegnung an auf Wolken zu schweben und keine Minute des Tages mehr verstreichen zu lassen, ohne an ihn zu denken.
Und sie hatte ihren Leichtsinn, sich auf eine solche Liebe einzulassen, teuer bezahlt. Sogar im wahrsten Sinne des Wortes.
Und trotz seines Betrugs verzehrt sich dein Herz nach ihm.
»Wenn es so wäre, dann bliebe ich ihm treu.« Sie dachte an Friedrich, der sich ihr gegenüber seit ihrem nächtlichen Zusammentreffen in der Wirtschaftsküche auffallend zurückhielt.
Andrejs Herz hüpfte vor Freude – so lange, bis er begriff, dass sie bei ihren Worten nicht an ihn dachte.
Wütend stampfte er mit dem Fuß auf die Erde, als sei sie allein schuld daran, dass Maribel ihn nicht wiedererkannte. Dabei löste sich die Schnur, die den Stiefel zusammenhielt. Jedem seiner Soldaten
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