Verliebt bis unters Dach Roman
böse aufgeschlagen, dass es genäht werden musste. Den ganzen Nachmittag hatten sie in dem stickigen kleinen französischen Krankenhaus gesessen und darauf gewartet, dass ein fremder, unfreundlicher Arzt sie versorgte. Aber hatte sie eine einzige Träne vergossen? Nein, sie hatte bloß an ihrer hübschen kleinen Unterlippe genagt, bis sie ganz fahl und blutleer wurde. Dann hatte sie sie fast durchgebissen.
Die Narbe gab es immer noch. Am Knie und an der Lippe.
Sonnenschein, hatten die Eltern sie genannt. Ihr sonniges Kind. Unser Sonnenscheinchen.
Heute verdeckten schwarze Wolken ihren goldenen Glanz. Marilyn setzte sich neben sie, breitete die Arme aus, und Liesel ließ sich hineinfallen. Sie hielten einander, bis das Weinen fast nachließ, ehe sie fragte: »Was ist es?« - obwohl sie es bereits wusste.
Sie bekam die Geschichte auf verdrehte und umständliche Weise zu hören, unterbrochen von Schluchzern und Schluckauf, in einer einzigen Welle von Gefühlen, die zwischen Resignation, Hoffnung, Verzweiflung und Wut hin- und herwogte.
»Warum bin ich bloß so?«, fragte Liesel verwirrt, nachdem sie gerade innerhalb von zehn Sekunden gelacht und geweint hatte.
»Weil du verliebt bist.« Marilyn hatte es endlich ausgesprochen.
»Blödsinn.«
»Tut mir leid, Schwesterchen. Aber das ist die Wahrheit.«
»Wenn das der Fall ist, dann will ich keine Liebe. Das ist ja Scheiße. Wer braucht denn so was?« Liesel nahm das hundertste Papiertaschentuch, das Marilyn ihr anbot, und schneuzte sich laut die Nase, ehe sie es ins Feuer warf.
»Warum nur er, May? Von allen Männern, die ich getroffen habe, die alle ungebunden waren? Warum geht es mir denn mit ihm so?«
»Weil er nett ist und freundlich und nachdenklich. Er ist ein sehr guter Mann, Lies, ein echter Gentleman, und vielleicht hast du noch nie einen gekannt, daher hat es dich völlig umgehauen. Aber genau aus diesem Grund versucht er ja auch, dich anständig zu behandeln. Das musst du begreifen.
Er kann nicht einfach jemanden fallen lassen, an dem ihm offensichtlich noch etwas liegt.«
»Aber ich weiß, dass er mich sehr mag.«
»Natürlich, das kann doch jeder Idiot sehen, dass er verrückt nach dir ist, aber er denkt hier nicht an sich selbst. Du musst verstehen, dass ihn genau das zu dem Menschen macht, in den du dich verliebt hast: dass er zuerst an sie denkt.«
Liesel lachte - ein trockenes, hohles Lachen ohne Humor.
»Aber warum gerade er?«, wiederholte sie unglücklich. »Mein Typ ist eher Bono, nicht Brad. Leidenschaftlich, nicht schön. Spaßmacher, kein Gentleman.«
»Aber wenn du es dir überlegst, ist er alles, was du gerade genannt hast. Er ist ein guter Mensch, Liesel. Er hat Grundwerte.«
Liesel seufzte tief.
»Bei mir gilt das als Pluspunkt, nicht als Fehler«, drängte Marilyn.
»Klar, aber wenn er kein so guter Mensch wäre...«
»Dann würde er sich nicht solche Gedanken um Caroline machen? Vielleicht wäre es ihm egal, eine vierjährige Verlobung zu lösen, für jemanden, den er erst seit ein paar Monaten kennt? Oder er würde mit beiden weitermachen? Würde mit dir hinter ihrem Rücken ein Verhältnis haben? Würdest du das wirklich wollen?«
Liesel wollte gerade sagen, dass sie ihn unter allen Bedingungen wollte, aber dann senkte sie den Kopf und schüttelte ihn langsam. Marilyn hatte Recht. Das Gute konnte sehr leicht beschmutzt werden. Sie wusste, was Tom für sie empfand, und nun war sie an der Reihe, sich ebenfalls anständig zu verhalten und ihn in Ruhe zu lassen, bis er seine Gefühle für Caroline geklärt hatte.
»Bei den beiden stimmt einiges nicht«, fuhr Marilyn fort.
»Yeah, und sie führt ihn weiterhin an der Nase herum«, murmelte Liesel unglücklich.
»Ja, vielleicht. Aber wenn das geschieht, dann bedeutet das entweder, dass es nie wirklich zwischen ihnen vorbei war, und wenn das der Fall ist...«
»Dann können wir keinen Neuanfang haben«, beendete Liesel den Satz.
»Genau.«
Liesel nickte. Tom machte das einzig Richtige, indem er Carolines Gefühle berücksichtigte. Doch dann stieg wieder die Wut in ihr hoch. Das war alles gut und schön, was Caroline betraf, aber was war mit ihr und ihren Gefühlen?
»Und meine Gefühle?«, rief sie. »Wer hat denn entschieden, dass ihre Gefühle wichtiger sind als meine?«
Marilyn schüttelte verzweifelt den Kopf Es war einer von jenen Momenten, in denen sie aussprechen musste, was sie dachte. Manchmal musste man, wie es im Sprichwort hieß, gerecht, aber grausam
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