Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
wollen, obwohl auch sie uns lieb und nah verwandt ist. Die Seele des Primitiven, der noch keine Entfremdung, keine Mühsal einer entgötterten und mechanisierten Welt kennt, ist eine kollektive, schlichte, kindliche Seele, etwas Schönes und Liebliches, aber nicht unser Ziel. Unsere beiden jungen Europäer im Bahnwagen sind schon weiter. Sie zeigen wenig Seele oder gar keine; sie scheinen ganz aus organisiertem Wollen, aus Verstand, Absicht, Plan zu bestehen. Sie haben ihre Seele verloren in der Welt des Geldes, der Maschinen, des Mißtrauens. Sie sollen sie wiederfinden, und sie werden krank werden und leiden, wenn sie die Aufgabe versäumen. Aber was sie dann haben werden, wird nicht die verlorene Kinderseele mehr sein, sondern eine weit feinere, weit persönlichere, weit freiere und verantwortungsfähigere. Nicht zum Kinde, zum Primitiven zurück sollen wir, sondern weiter, vorwärts, zu Persönlichkeit, Verantwortlichkeit, Freiheit.
Von diesen Zielen und ihrer Ahnung ist hier noch nichts zu spüren. Die zwei jungen Männer sind weder primitiv, noch sind sie Heilige. Sie sprechen die Sprache des Alltags, eine Sprache, die zu den Zielen der Seele so wenig paßt wie eine Gorillahaut, die wir aber nur langsam und in hundert tastenden Versuchen abstreifen können.
Diese urweltliche, rohe, stammelnde Sprache lautet etwa so:
»Morgen«, sagt der eine.
»Tag«, sagt der andere.
»Gestatten?« der eine.
»Bitte«, der andere.
Damit ist gesagt, was gesagt werden mußte. Bedeutung haben die Worte nicht, sie sind reine Schmuckformen des primitiven Menschen, ihr Zweck und Wert ist derselbe wie der des Ringes, den sich ein Neger durch die Nase zieht.
Äußerst seltsam aber ist der Ton, in dem die rituellen Worte gesprochen werden. Es sind Höflichkeitsworte. Ihr Ton aber ist sonderbar kurz, knapp, sparsam, kühl, um nicht zu sagen böse. Es ist kein Grund zu Streitigkeiten da, im Gegenteil, und keiner von den beiden denkt Böses. Aber Miene und Ton sind kühl, sind gemessen, schroff, fast wie gekränkt. Der Blonde zieht bei seinem »Bitte« die Brauen hoch mit einem Ausdruck, der an Verachtung grenzt. Er empfindet nicht so. Er übt eine Formel aus, die in Jahrzehnten eines seelenlosen Verkehrs zwischen Menschen sich als Schutzform ausgebildet hat. Er meint sein Innerstes, seine Seele, verbergen zu müssen; er weiß nicht, daß sie nur im Aufzeigen und Hingeben gedeiht. Er ist stolz, er ist eine Persönlichkeit, kein naiver Wilder mehr. Aber sein Stolz ist jammervoll unsicher, er muß sich verschanzen, muß Wälle von Abwehr und Kälte um sich ziehen. Dieser Stolz wäre vernichtet, wenn man ihm ein Lächeln abgewänne. Und diese ganze Kälte, dieser ganze böse, nervöse, stolze und dabei unsichere Ton des Verkehrs zwischen »Gebildeten« zeigt Krankheit an, notwendige und darum hoffnungsvolle Krankheit der Seele, die sich gegen Vergewaltigung nicht anders zu wehren weiß als durch solche Zeichen. Wie ist diese Seele scheu, wie ist sie schwach, wie jung und wenig anerkannt fühlt sie sich auf Erden! Wie verbirgt sie sich, wie hat sie Angst!
Wenn jetzt einer von den beiden Herren das täte, was er eigentlich will und fühlt, so böte er dem andern die Hand hin oder streichelte seine Schulter und würde etwa sagen: »Lieber Gott, ist das ein schöner Morgen, alles wie Gold, und ich habe Ferien! Gelt, meine neue Krawatte ist fein?! Du, ich habe Äpfel im Koffer, willst du einen?«
Wenn er wirklich so spräche, so würde der andere etwas ungemein Freudiges und Rührendes fühlen, etwas von Lachen und etwas von Schluchzen. Denn er würde genau spüren, daß hier die Seele des andern sprach, daß es nicht auf die Äpfel und nicht auf die Krawatte und überhaupt auf nichts anderes ankommt als darauf, daß hier ein Durchbruch stattgefunden hat, daß etwas ans Licht gekommen ist, was dahin gehört und was wir alle auf Grund einer Vereinbarung zurückhalten – ach, auf Grund einer Vereinbarung, deren Zwang noch gilt und deren einstigen Zusammenbruch wir doch schon fühlen!
Also er würde so empfinden, aber er würde das nicht äußern. Er würde zu einem mechanischen Schutzmittel greifen, einen sinnlosen Redebrocken hinwerfen, eines unserer tausend Ersatzworte. Er würde ein wenig meckern und sagen: »Ja . . . häm . . . sehr schön«, oder etwas dergleichen, und würde wegblicken mit einer Kopfbewegung voll beleidigter und gefolterter Geduld. Er würde mit seiner Uhrkette spielen, durch das Fenster starren und durch zwanzig
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