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Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Titel: Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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solcher Hieroglyphen zum Ausdruck bringen, daß er seine innere Freude keineswegs zu äußern gesonnen sei, daß er nichts zeigen, nichts zugestehen könne als höchstens ein gewisses Mitleid mit diesem zudringlichen Herrn.
    Indessen, dies alles geschieht nicht. Der Dunkle hat tatsächlich Äpfel im Koffer und hat tatsächlich eine riesige Bubenfreude über den schönen Tag und seine Ferien, über seine Krawatte und die gelben Schuhe. Aber wenn der Blonde jetzt beginnen würde: »Üble Sache das mit der Valuta«, dann wird der Dunkle nicht tun, wie seine Seele will, er wird nicht rufen: »Ach was, lassen Sie uns vergnügt sein, was geht uns jetzt die Valuta an!«, sondern er wird mit sorgenvollem Gesicht und einem Seufzer sagen: »Tja, es ist scheußlich!«
    Es ist wunderbar zu sehen: diese beiden Herren haben (wie wir alle) scheinbar gar keine Mühe, sich so zu benehmen, sich so ungeheuern Zwang anzutun. Sie können mit lachendem Herzen seufzen, mit mitteilungsbedürftiger Seele Kälte und Abwehr heucheln.
    Aber du beobachtest weiter. Ist die Seele nicht in den Worten, nicht in den Mienen, nicht im Ton der Stimme, irgendwo wird sie doch sein. Und du siehst: Der Blonde hat sich jetzt vergessen, er fühlt sich unbeobachtet, und wie er zum Wagenfenster hinaus auf die fernen zackigen Wälder blickt, ist sein Blick frei und unverstellt und ist voll von Jugend, von Sehnsucht, von naiven, heißen Träumen. Er sieht ganz anders aus, jünger, einfacher, harmloser, vor allem hübscher. Der andere aber, der ebenfalls so tadellose und unnahbare Herr, er steht auf und greift mit der Hand nach seinem Koffer über sich ins Netz. Er tut so, als wolle er dessen Lage prüfen, sein Herabfallen verhindern, allein der Koffer liegt sehr gut und fest und hat keine derartige Sorge nötig. Der junge Mann will ihn auch gar nicht festhalten, er will ihn nur anfühlen, sich seiner vergewissern, ihn zärtlich berühren. Denn in dem tadellos sachlichen Lederkoffer ist außer den Äpfeln und außer der Wäsche noch etwas Wichtiges, noch ein Heiligtum, ein Geschenk für seinen Schatz daheim, ein Dachshund aus Porzellan oder ein Kölner Dom aus Marzipan, einerlei was, aber jedenfalls etwas, woran dieser junge Mann zur Zeit hängt, womit seine Träume spielen, was sie lieben und vergöttern, was er am liebsten beständig in Händen halten, streicheln und bewundern würde.
    Während einer Stunde Bahnfahrt hast du nun zwei junge Leute beobachtet, einigermaßen gebildete Durchschnittsleute von heute. Sie haben Worte gesprochen, haben Grüße getauscht, Meinungen getauscht, haben mit den Köpfen genickt und geschüttelt, sie haben tausend kleine Dinge getan, Handlungen verrichtet, Bewegungen ausgeführt, und an nichts davon war ihre Seele beteiligt, an keinem Wort, an keinem Blick, alles war Maske, alles war Mechanik, alles, mit Ausnahme des einen vergessenen Blickes aus dem Fenster nach dem bläulich fernen Wald und des kurzen, ungeschickten Griffes nach dem Lederkoffer.
    Und du denkst: O ihr scheuen Seelen! Werdet ihr einmal hervorbrechen? Vielleicht schön und freundlich in einem erlösenden Erlebnis, im Bund mit einer Braut, im Kampf für einen Glauben, in Tat und Opfer – vielleicht jäh und verzweifelt in einer hastigen Tat des vergewaltigten, verdeckten, verdüsterten Herzenswillens, in einer wilden Anklage, in einem Verbrechen, einer Schreckenstat? Und ich und wir alle: wie werden wir unsere Seelen durch diese Welt bringen? Wird es uns gelingen, ihnen zum Recht zu verhelfen, sie in unsere Gebärden, in unsere Worte einzulassen? Werden wir resignieren, werden wir der Menge und Trägheit folgen, den Vogel immer wieder einsperren, uns immer wieder Ringe durch die Nase ziehen?
    Und du fühlst: Überall, wo Nasenringe und Gorillahäute abgeworfen werden, da ist Seele am Werk. Wäre sie ungehemmt, wir würden miteinander reden wie die Menschen Goethes und würden jeden Atemzug als einen Gesang empfinden. Arme, herrliche Seele, wo du bist, da ist Revolution, ist Bruch mit Verkommenem, ist neues Leben, ist Gott. Seele ist Liebe, Seele ist Zukunft, und alles andere ist nur Ding, nur Stoff, nur Hindernis, unsere göttliche Kraft im Formen und im Zerbrechen daran zu üben.
    Weiter kommen Gedanken: Leben wir nicht in einer Zeit, da Neues sich laut verkündet, da Bindungen der Menschheit umgerüttelt werden, da in ungeheurem Umfang Gewalt geschieht, Tod wütet, Verzweiflung schreit? Und ist nicht Seele auch hinter diesen Vorgängen?
    Frage deine Seele!

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