Verliebt in einen Gentleman
freien Sitzplatz. Ein furchtbar dicker Mann steht mitten im Gang und blockiert ihn, wie ein Korken den Hals einer Flasche. Wir stehen ratlos da. Zwei schlanke Mädchen versuchen, an uns vorbei zu drängen. Ich quetsche mich in ein Abteil hinein, das vollbesetzt ist, und ernte böse Blicke.
Der dicke Mann faucht mich an: „Wie kann man so blöd sein, und um diese Uhrzeit mit so schwerem Gepäck Bahnreisen? Eine Rücksichtslosigkeit!“
Mir liegt auf der Zunge, zu erwidern: „Wie kann man so rücksichtslos sein, um mit so einem dicken Bauch zur Hauptreisezeit unterwegs zu sein?“, aber natürlich verkneife ich mir die Bemerkung. Ich will mich nicht als „bad German“ aufführen, und man würde an meinem – leider vorhandenen – Akzent merken, woher ich komme.
In der Victoria Station hält unser Zug und platzt auf wie eine reife Frucht. Wir Passagiere fließen hinaus auf den Bahnsteig.
Ich stemme meine Koffer hinunter und ziehe sie polternd hinter mir her. Ich habe eine Schultertasche, deren Träger ewig und immer von meiner Schulter rutscht. Das bedeutet: Anhalten. Einen Koffer loslassen. Träger hoch schieben. Weitergehen.
Die Gänge der Londoner Underground sind nimmerendend. Ich laufe lange Wege, müde und erschöpft. Endlich finde ich den Zug, der mich zur Liverpool Station bringt, der Bahnstation, deren Züge in den Nordosten der Insel fahren.
Warum riechen alle Bahnstationen in England so seltsam? Es ist ein Geruch nach Teer und Karbol-Desinfektion. Vermutlich hat man ein spezielles Putzmittel, das vom Staat zentral für alle öffentlichen Gebäude verordnet ist, billig aber strengriechend.
Ich finde den Zug nach Colchester und noch ein freies Abteil. Ich bin halb tot, als ich mich auf die Lederbank fallen lasse. Ich sehe mich um.
Im Gegensatz zu dem Zug, der mich aus Dover nach London gebracht hat, hat dieser Zug keine durchgehende Abteile. Jedes Abteil besteht aus zwei Bänken, die sich gegenüberstehen. Jedes Abteil hat seine eigenen Türen; eine rechts, eine links. Ich sehe mit Sorge, dass man keinen Gang hat, den man entlanggehen kann. Wenn man in einem Abteil drin ist, ist man eingesperrt, wie in einer Mausfalle. Was macht man eigentlich, wenn jemand zusteigt, der einen ausrauben will, oder vielleicht noch Schlimmeres mit einem vorhat? Ich überlege, dass diese Situation vielleicht noch gruseliger ist, als in einem Zug unter dem Ärmelkanal durchzusausen. Aber jetzt habe ich keine Lust, weiter darüber nachzudenken. Ich bin so müde. Ich schließe meine Augen und lehne meinen Kopf zurück gegen das Polster. Draußen ist es schon dunkel geworden. Ein älteres Ehepaar steigt zu. Es unterhält sich dezent und friedlich murmelnd. Ihre Stimmen mischen sich mit dem gleichmäßigen Klappern der Zugräder.
Irgendwann öffne ich die Augen.
Das Paar ist ausgestiegen und ich bin ganz alleine im Abteil. Ein Blick auf die Uhr und auf ein Bahnhofsschild bestätigen mir: ich bin gleich an meinem Zielort, in Brantwood. Dort holen mich meine Gastgeber ab.
Ich vergewissere mich, dass ich mein Gepäck in Griffnähe habe. Ich werde schnell aussteigen müssen und darf nichts vergessen.
Jetzt bremst der Zug. Ich blicke durch das Fenster und sehe die Schilder mit BRANTWOOD. Ich stehe auf, strecke mich und schiebe den Träger meiner Schultertasche zurecht. Jetzt hält der Zug mit quietschenden Bremsen. Ich greife nach dem Türhebel.
Und greife ins Leere.
Da ist kein Türhebel.
Es ist wie in einem Albtraum. Ich weiß, gleich fährt der Zug weiter, und habe keine Ahnung, wie ich aus dem Gefährt herauskommen soll!
Da klopft es an das Fenster. Jemand gestikuliert, dass ich das Fenster herunterschieben soll, was ich blitzschnell mache. Das geht wenigstens.
Eine kräftige Hand greift durch das offene Fenster, findet einen winzigen – ich schwöre, dass er wirklich winzig ist! – Schieber, den sie beiseite drückt. Die Tür schwingt auf, und ich bin frei. Zitternd greife ich nach meinen Koffern. Die kräftigen Hände haben sie schon gepackt und schwingen sie auf den Bahnsteig herunter. Ein Mann steht vor mir, groß, breitschultrig und mit dunklen Haaren.
„Danke“, sage ich mit bebender Stimme.
Der Mann hebt eine Hand zur Stirn zum Salut. In seinen dunklen Augen lese ich so etwas wie Belustigung.
„Wie blöd muss man sein, um eine Abteiltür nicht öffnen zu können“, scheint dieser Blick zu sagen.
Dann dreht der Mann sich um und verschwindet in die Dunkelheit.
Ich stehe am Bahnsteig und bin nun ganz
Weitere Kostenlose Bücher