Verliebt in einen Gentleman
hinein. Es riecht stark nach Alkohol. Tom lässt sich zwischen ihnen nieder, streckt die Beine weit aus und beginnt auf der Stelle zu schnarchen. Die Mädels finden das wahnsinnig komisch und kichern und gackern schrill durcheinander.
Ich bleibe einfach auf dem Beifahrerplatz sitzen. Keiner scheint es zu bemerken. Überhaupt scheint auch keiner mich zu vermissen. Wenn ich nicht schon längst im Auto säße, brächten die es fertig und würden einfach ohne mich zurück nach Münster fahren, denke ich leicht säuerlich.
Jens schaltet das Navi an und fährt los. Nach einer Weile beruhigen sich die Mädchen. Jens muss nur einmal anhalten, damit sich Carla, oder Clara, oder wie sie heißt, übergeben kann.
Dann schnurrt die Limousine sanft und gut gefedert weiter. Ab und zu spricht die mechanische Frauenstimme des Navis etwas. Es ist warm und sonst still.
Irgendwann hält die Limousine an.
Ich öffne meine Augen. Verwirrt nehme ich wahr, dass ich wohl eingeschlafen sein muss, und mein Kopf auf Jens' Schulter liegt.
„Endstation, Lea“, sagt er sanft, „du bist zu Hause.“
Ich muss mich erst eine Sekunde besinnen, dann nehme ich meine Schuhe und meine Handtasche an mich. Ich suche den Wohnungsschlüssel heraus und steige aus dem Wagen.
Jens, der perfekte Chauffeur, hält mir die Tür auf.
„Ist hier tatsächlich Endstation für uns?“, fragt er leise, fast flehend.
„Ich fürchte schon“, murmele ich, streife mit einer Hand zart über sein stachliges Kinn und eile der Haustür zu. Keine zehn Minuten später liege ich in meinem Bett und schlafe weiter.
Meine nächste Woche ist so voll mit Reiseplanung, mit Packen und mit dem Erledigen letzter Besorgungen, dass ich kaum noch an Jens denke. Mein Studentenzimmer geht an eine Studentin aus Portugal zur Zwischenmiete. Ich räume die Schränke frei, packe alles in große Kleidersäcke und schleppe es hinauf in den Dachboden. Als ich mit einem Mal meine schwarzen High Heels in der Hand halte, muss ich an den Abend in Hohensyburg zurückdenken. Es war schon toll, wie die Katastrophe sich zu so einem glücklichen Ausgang gewendet hatte.
Nun, denke ich, Jens findet den Ausgang vielleicht nicht so ganz uneingeschränkt glücklich. Anscheinend hatte er sich schon ein wenig in mich verguckt, aber ich bin mir sicher, dass er mich bald vergessen haben wird.
Ein wenig horche ich in mich hinein. Und ich? Hatte ich mich nicht auch ein wenig in ihn verliebt?
Nein, ist meine Antwort. Dafür ist ein Abend zu kurz. Zwar mag es tatsächlich so etwas wie „love at first sight“ geben – eigentlich träumt doch jeder heimlich davon – aber bei mir ist das bei Jens definitiv nicht eingetreten. Möglicherweise bin ich sogar auch ein kleines bisschen froh, dass ich eine Ausrede habe, ihn nicht mehr zu sehen. Er ist einfach nicht mein Typ, aber er ist so durch und durch nett, dass es mir leid getan hätte, ihm das früher oder später sagen zu müssen.
Ich sehe die Schuhe etwas ratlos an. Was mach ich nur mit den Dingern? Soll ich sie mit nach England nehmen?
Aber dann denke ich, dass es in dem kleinen Dorf, in dem ich die nächsten zwölf Monate verbringen werde, bestimmt keine rauschenden Feste oder hippe Diskos gibt, wo ich solche Schuhe jemals brauchen würde.
Die Sache ist nämlich so:
Ich habe mein bisheriges Englischstudium ganz tapfer bestritten und auch ganz gute Noten bekommen. Aber ich weiß, dass mein eigentlicher Sprachgebrauch nicht so wahnsinnig beeindruckend ist. Also habe ich mich entschlossen, das zu ändern, indem ich als Assistant-Teacher in einer sogenannten Comprehensive School arbeiten werde, dem Äquivalent einer deutschen Gesamtschule.
Bei der Wahl der Schule hat man kein Mitspracherecht – man muss sich überraschen lassen, wohin es geht. Für mich ist das Los auf eine Schule in Gatingstone gefallen. Gatingstone liegt etwa eine Autostunde nördlich von London in der Grafschaft Essex.
Zwar hat man mir versichert, dass ein Ausflug nach London ein Klacks wäre, und dass viele der Dorfbewohner sogar täglich nach London pendeln, aber ich kalkuliere mal, dass ich als seriöse Lehrerin wohl eher nicht regelmäßig in den angesagten Londoner Clubs abhängen werde. Eher werde ich an den Abenden über meinen Büchern hängen, denn ich habe vor, mir mein gesamtes Lesepensum für das Examen im Laufe des nächsten Jahres anzueignen.
Natürlich habe ich im Vorfeld nach diesem Gatingstone gegoogelt.
Da stand, dass der Ort etwa 3,500 Einwohner hat. Es
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