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Verliebt in einen Unbekannten

Verliebt in einen Unbekannten

Titel: Verliebt in einen Unbekannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Robinson
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keinen Umständen wollte ich den Höhlenmenschen in der Kabine nebenan aufwecken.
    Es folgte eine kurze Pause. Dann: »Hallo.« Granny Helens erfreute Stimme.
    Ich blickte auf die Uhr. Es war vier Uhr sechsunddreißig. Zum ersten Mal seit über vierundzwanzig Stunden musste ich lächeln. Natürlich würde meine Großmutter um vier Uhr sechsunddreißig anrufen, wie könnte es auch anders sein? »Hallo, Granny.« Ich ließ mich in die Kissen zurücksinken. »Ist es nicht ein bisschen spät für einen Anruf?«
    Meine Großmutter ignorierte meinen Einwand. »Ich habe von Vanessa erfahren, dass du dich selbst bemitleidest«, sagte sie. Es klang, als würde sie essen. Ich wusste auch, was sie aß: dunklen, saftigen jamaikanischen Lebkuchen. Granny Helen lebte in dem zu unserem Haus gehörenden Cottage, wo sie oft bis in die frühen Morgenstunden saß, Lebkuchen mampfte und furchterregend klingende Bücher verschlang, die Lesebrille auf der Nasenspitze. Neben ihr stand für gewöhnlich ein Glas Scotch, auf ihrem Grammophon dudelte leise eine dramatische Dvo r ˇ ák-Symphonie. Als ich sie mir in dieser vertrauten Szenerie vorstellte, fühlte ich mich plötzlich getröstet. »Nun?«, hakte sie nach. »Suhlst du dich nun in Selbstmitleid oder nicht?«
    Ich überlegte, ob ich flunkern sollte, doch meine zweiunddreißigjährige Erfahrung belehrte mich eines Besseren. »Ja«, gab ich zu. »Aber das kann man mir wohl kaum zum Vorwurf machen …«
    Â»Unsinn!«, blaffte sie. »Wenn die Jungs aus dem Krieg nach Hause kamen, hatten sie gebrochene Knochen selbst an Stellen, an denen es gar keine Knochen gab, Charlotte. Sie hatten nicht bloß einen doppelten Schienbeinbruch wie du, sie hatten sich die Beine zwanzigfach gebrochen! Trotzdem humpelten sie an Krücken weiter. Wo bleibt dein Kampfgeist?«
    Â»Wir leben im Jahr 2012«, erinnerte ich sie. »Ich bin zu einem Picknick gegangen und nicht in den Kampf gegen die Deutschen gezogen! Da darf ich doch wohl ein bisschen frustriert sein!« Natürlich wusste ich, dass sie mir das nicht durchgehen lassen würde.
    Â»Nein«, widersprach sie vehement. »Nein, Charlotte, das darfst du nicht. Ich werde Christian bitten, mich morgen zu dir ins Krankenhaus zu fahren, und bis dahin möchte ich, dass du dich zusammenreißt und aufhörst zu schmollen. Herrgott, Mädchen! In ein paar Wochen bist du wieder putzmunter! Es hätte weitaus schlimmer kommen können!«
    Wir schwiegen, ich missmutig, sie grimmig.
    Â»Hör zu, Charlotte«, fuhr sie nach einer kurzen Weile mit weniger scharfer Stimme fort. »Denk mal darüber nach, womit du dich während deiner Genesungszeit beschäftigen möchtest, und teil mir morgen mit, zu welchem Schluss du gekommen bist. Es muss doch etwas geben, was du tun kannst. Ich persönlich empfehle dir Modellbau. Dein Großvater hat’s geliebt! Hat sein übereifriges Hirn zur Ruhe kommen lassen.«
    Â»Na schön«, erwiderte ich automatisch, obwohl ich ganz genau wusste, dass das Modellbauen bei mir keine derartige Wirkung erzielen würde. Nichts würde mich glücklich machen, solange ich nicht aufstehen und wieder zur Arbeit gehen könnte.
    Â»Wunderbar. Und jetzt schlaf«, befahl sie mir, als hätte ich nicht genau das zuvor versucht.
    Â»Bye, Granny.« Ich legte den Hörer auf, dann knipste ich die kleine Leselampe an, starrte niedergeschlagen auf den Stapel Zeitschriften und Bücher neben meinem Bett und fragte mich, ob meine Großmutter auch nur ansatzweise verstand, wie mein Leben lief. Welche einzelne Beschäftigung sollte mir all die Dinge ersetzen, mit denen ich mich Tag für Tag befasste?
    Ich versuchte, weder zu schmollen noch zu grollen – mitunter hatte ich das Gefühl, Granny Helen würde mich noch lange Zeit nach unseren Gesprächen beobachten –, zog eine Zeitung hervor und überflog die Seiten, als könnte mir das helfen.
    Zu meiner Überraschung tat es das tatsächlich.
    Plötzlich hatte ich einen Geistesblitz. »Ach du liebe Güte!«, wisperte ich. »Das ist die Lösung!«
    Â»Schieb dir deine Lösung in den Hintern!«, knurrte der Höhlenmensch neben mir.
    Ich erstarrte, bis ich wieder sein ochsenhaftes Schnarchen vernahm, dann öffnete ich mein Notizbuch. In meinen Adern entflammte ein Fünkchen Hoffnung.

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